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Digital In Arbeit

Zug der Lemminge

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Was beunruhigt Sie? Was bedrängt Sie? Die FURCHE bat einige namhafte Autoren um eine Stellungnahme.

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Was beunruhigt Sie? Was bedrängt Sie? Die FURCHE bat einige namhafte Autoren um eine Stellungnahme.

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Ein Bücherschreiber ist ein Mensch, der Bücher schreibt, seine Ängste, Unruhen und Bedrängnisse aber mit den vielen anderen Menschen teilt, die keine Bücher schreiben.

Selbstverständlich habe ich Angst vor den 500 Tonnen TNT, die angeblich für jeden von uns bereitliegen, unruhig beobachtete ich die coole Professionalität der Politiker im Umgang mit einer solchen Wahnsinnsziffer und der dumpfen Wut, die sich von unten her aufbaut, und mich bedrängt die Frage, was ich unter diesen Umständen tun könnte, tun müßte.

Wie Martin Luther wäre ich willens, vor dem Weltuntergang noch rasch ein Bäumchen zu pflanzen, aber ich täte es wahrscheinlich aus Gewohnheit, nicht einmal unter Protest. Auch solche dekorativen Gesten imponieren mir nicht mehr. Wir sitzen wie in einer Maschine, in der irgendein wichtiger Kontrollmechanismus durchgebrannt oder zusammengebrochen ist: sitzen da und überlegen, wie und was wir miteinander reden sollten, und hören mit einem Ohr auf das Surren der Räder, die sich schon viel zu rasch drehen.

Den kleinen Tod haben wir noch kleiner gemacht, aus Freund Hein einen gefährlichen Zwerg, den die Arzte zwischen den Kurven der Statistiken herumscheuchen, aber ein viel größerer Tod wirft seinen Schatten über den Himmel, sodaß wir schon froh sein dürfen, solang es nur saurer Regen ist, der aus den Wolken kommt.

Wie hat es nur dahin kommen können? Zehn Jahre alt war ich beim Ende des Zweiten Weltkriegs, rundum die Trümmer eines tausendjährigen Reichs, tabu? la rasa und ein neuer Morgen. Ich hatte keinen Vater, kein Bett, wenig zu essen — und doch freute ich mich darauf, von vorn anzufangen. Ich hatte sogar eine recht deutliche Vorstellung von einem Paradies, eine vermutlich archetypische und dementsprechend weitverbreitete Vorstellung, die ich später bei meinen Kindern wiedergefunden habe. Ich wußte, daß das Paradies ein Garten ist, und ich wußte auch, daß die Weisheit der Gärtner ebenso im Unterlassen wie im Tun besteht. Ein Garten muß ruhig wachsen, er bracht Geduld und behutsame Hände.

Heute ist mir klar, wo mein Irrtum gelegen war — ein Irrtum, der unter den gegebenen Umständen verzeihlich war, gefördert überdies durch meine Lehrer, die keineswegs zu den finsteren Unbelehrbaren gehörten, unter denen anscheinend so viele meiner Kollegen aus der Branche gelitten haben. Im Gegenteil. Sie waren davongekommen und dafür dankbar. Meine Lehrer taten, als ob mit dem jämmerlichen Adolf auch das Böse in seiner Wurzel vernichtet worden wäre, die häßlichen Reste würden nun von selbst absterben, allenfalls ließe sich das durch ein wenig Nachhilfe beschleunigen. Nicht Gott sei tot, behaupteten sie, sondern der Teufel. Mit dem bißchen Erbsünde, das in uns stecke, werde man schon irgendwie fertig.

Der inflationäre Optimismus, zu dem ich so erzogen wurde, baute sich dann ziemlich rasch ab, aber die Jüngeren, die vielleicht über mich lächeln, dürfen auch die Euphorie des Wiederaufbaus nicht unterschätzen.

Wenn ich mich recht erinnere, haben meine ersten ernsten Zweifel noch in der Aufschwungphase der ersten Hochkonjunktur eingesetzt, jedenfalls noch vor meinem „Eintritt ins Berufsleben”. Damals habe ich mir vorgenommen, möglichst wenig kaputtzumachen, und ich habe sehr bald erfaßt, daß das Schlimmste immer dann droht, wenn man sich einbildet, etwas Gutes durch Besseres zu ersetzen. So kommt es zu den gefährlichsten Störungen im psychischen, im sozialen und im ökologischen Gleichgewicht, und die wirklichen Übel, vor denen man sich drückt, werden immer größer. In meinen Grenzen wollte ich die Welt nicht verbessern, sondern in Ordnung halten, und auch dem Bösen zumindest die Chance geben, sich selbst zu zerstören: Diesen Minimaloptimismus bin ich nie ganz losgeworden.

Ich habe kein schlechtes Gewissen, aber ich bin zunehmend ratlos. Noch vor ein paar Tagen lagen einige hundert junge Menschen in Zelten und Schlafsäcken in der Hainburger Au und bewachten den Schlaf der Bäume, die da fallen sollten. Auch sie wollten die Welt nicht verbessern, wollten nur verhindern, daß sie von denen verwüstet wird, die sich einbilden, etwas Gutes durch Besseres zu ersetzen, durchwegs Leute meiner Generation, die doch im Rückblick erkennen müßten, was sie insgesamt angerichtet haben, und Angst vor den Folgen ihrer Erfolge haben müßten. Karin es noch gelingen, daß Menschen aus dem Labyrinth der sogenannten Sachzwänge ausbrechen und zu einer Freiheit wahrhaft menschlichen Handelns auf einer Ebene finden, wo es zwischen dem Wert einer Sache und dem Preis einer Ware wieder einen grundsätzlichen Unterschied gibt?

Sachzwänge! Ja, das ist wohl der gemeinsame Nenner für alles, was die pragmatische Vernunft falsch macht. Auf Sachzwang reimen sich Mittelstreckenraketen und gefällte Bäume, der saure Regen und die Diktatur der Mehrheit als Kehrseite der Demokratie. Sachzwang als psychotische Entartung eines eindimensionalen Denkens. Wie Lemminge folgen die Vernünftigen ihren Sach-zwängen, und der Vernünftigen sind so fürchterlich viele, daß es die Narren, zu denen ich mich rechne, in dem Gewimmel immer schwerer haben, ihren Zickzackkurs zu einem eigenen Ende zu steuern, das vielleicht ein Anfang sein könnte — und dort noch anzukommen, bevor das Meer, das den Lemmingen entgegendrängt, auch über ihnen zusammenschlägt.

Bisher in dieser Reihe erschienen: „Leben in kalten Zeiten” von Heinz Pototschnig (Nr. 49/ 84), „Oblatenfrühling” von Friederike May-röcker (Nr. 50/84).

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