Zeitgeschichte, hautnah: Die Nazis in der Provinz

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Forschungsarbeit vor Ort: Mit dem historischen Wissen kehrt auch die Erinnerung zurück.

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Forschungsarbeit vor Ort: Mit dem historischen Wissen kehrt auch die Erinnerung zurück.

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Die Geschichte des Nationalsozialismus, des Terrors, der Täter und Opfer füllt Bibliotheken und auch der am Thema Interessierte fragt sich, ob es denn nicht des Guten schon genug sei. Nicht schon wieder, darf man zwar vielleicht nicht sagen, aber gedacht hat es nicht nur Martin Walser. Drei neue Bücher über den Nationalsozialismus in der Provinz führen eindrucksvoll vor Augen, daß zumindest an der Peripherie des Geschehens auch in den späten neunziger Jahren noch immer historische Entwicklungsarbeit geleistet werden kann - und muß. Der Antrieb für die Erforschung dieser unerschlossenen Flecken kommt meist aus der heimatlichen Nähe. Die Autoren stammen aus den Städten, deren verdrängte Geschichte sie ausgraben. Peter Schwarz aus Tulln, Gerhard Zeilinger aus Amstetten, Christoph Lind aus St. Pölten, Friedrich Polleroß aus dem Waldviertel und Waltraud und Georg Neuhauser aus Steyr. Leicht haben sie es nicht gehabt, Archivmaterial und Fotos zu finden. Überzeugungsarbeit war notwendig, um Zeitzeugen dazu zu bringen, über ihre Erlebnisse zu berichten.

Die Zeiten, in denen Akten wider besseres Wissen für verlustig erklärt wurden, scheinen aber doch vorbei zu sein, und so können Peter Schwarz und Christoph Lind auf beeindruckendes lokales Archivmaterial zurückgreifen, das den Alltag der Entrechtung und Enteignung von Juden in Tulln und St. Pölten zeigt. Die lokalen Begehrlichkeiten reichten im Fall von Tulln von Wohnungen und Geschäften über Goldhauben bis zu Badehütten. In der Monographie über St. Pölten ist die Gegenwart immer präsent, dies macht das literarische Denkmal so lebendig und gleichzeitig auch gespenstisch, wenn zum Beispiel die mühsamen Versuche, geraubtes Eigentum wieder zu erhalten, geschildert werden, oder wenn der Hinweis des Rechtsanwalts der Familie Leicht, angesichts der gezielten Hinhaltetaktik der Stadt in die Öffentlichkeit zu gehen, als Drohung und Erpressung interpretiert wird.

Die Analyse ist klar und ernüchternd und gilt für alle Kleinstädte, nicht nur Tulln: "Ohne die fleißige Zuarbeit der vielen Kreis- und Ortsgruppenleiter, der SA- und SS-Mitglieder in ganz Hitlerdeutschland, ohne ihr hypertrophes Engagement in der Judenpolitik auf lokaler Ebene, wäre die Entwicklung zum Holocaust kaum denkbar." Nicht selten waren NS-Lokalpolitiker der treibende Motor der Judenverfolgung. Im Falle Tulln war es der Ortsgruppenleiter Leopold Knollmayer, der es erreichte, daß ein "Judenausgehverbot" für die Zeit zwischen 8 und 10 Uhr vormittags auf öffentlichen Straßen in der Stadt an der Donau bereits ab 21. September 1938 (!) galt. Das Grauen hat Namen, und die werden in diesem Buch auch genannt, denn eine "Ausblendung käme einer ,enthistorisierenden' Anonymisierung gleich, die auf die Leugnung jeglicher individuellen und konkreten historischen Verantwortung hinausliefe." Geschichte wird in Geschichten aufgelöst und präsentiert, ohne daß dabei ins Geschichterlerzählen abgeglitten würde, denn der Rahmen der Betrachtung ist klar abgesteckt. In Mahlers VI. Symphonie sind es drei Hammerschläge die ertönen, bevor der Tod eintritt. Die drei Hammerschläge der NS-Judenpolitik im Sinne einer stufenweisen Radikalisierung lauten bei Schwarz: Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dafür liefert er eindrucksvolle Beispiele aus Tulln.

Um die Provinz überleben zu können, ist nicht selten die Flucht notwendig. "Fluchtspuren" nennen Waltraud und Georg Neuhauser, die ebenfalls seit Jahren nicht müde werden, Licht in das dunkle Kapitel der Geschichte ihrer Heimatstadt Steyr zu bringen, ihr Buch. Es dokumentiert 18 "Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt", doch der Blick richtet sich nicht nur starr in die Vergangenheit. Empathie auch für spätere Vertreibungen wird geweckt, sei dies nun in der Schilderung einer bosnischen Familie, in der Geschichte sogenannter "Heimatvertriebener" oder der Flüchtlinge aus Ungarn 1956. Dieser umfassende Ansatz verleitet sie jedoch nicht zum Gegenüberstellen, Relativieren oder zu gegenseitigem Aufrechnen: "So unterschiedlich Menschen sind, so einzigartig und eigenständig sind auch ihre Geschichten."

All diese Autoren führen weiter, was die Bahnbrecher der Erinnerungsarbeit in der Provinz schon vor Jahren eingeleitet haben. Zu ihnen gehört beispielsweise Friedrich Polleroß mit seinem Buch "Die Erinnerung tut zu weh - Jüdisches Leben und Antisemitismus im Waldviertel" (Waldviertler Heimatbund, Waidhofen/Thaya 1996, 416 Seiten, 211 Abb., öS 360,-). Es ist mit einer Fülle von Bild- und Erinnerungsmaterial ein positives Beispiel österreichischer Wissenschaftsgeschichte und das Ergebnis eines Umdenkprozesses, dessen Katalysator im Waldviertel, der ehemaligen "Ahnenheimat des Führers", die Heimatzeitschrift "Das Waldviertel" war. Sie verstand es Anfang der achtziger Jahre, vom verstaubten und belasteten Image der Heimatforschung wegzukommen und der verdrängten Geschichte eine publizistische Heimat zu geben. Friedrich Polleroß ging aus diesem Kreis hervor. Neben Überblicksartikeln bietet sein Band Lokalmonographien des jüdischen Lebens in Eggenburg, Horn, Markt Pölla, Waidhofen an der Thaya und Zwettl. Eine Dokumentation, die viele Wege zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebnet.

Aber auch, wer das von Gerhard Zeilinger herausgegebene Buch "Amstetten 1938-1945" (Amstetten 1996, 124 Seiten, Bilder, öS 290,-) in die Hand nimmt, kann sich des Wunderns nicht erwehren. Wenige österreichische Städte können sich rühmen, ein solches Werk in Auftrag gegeben zu haben. An Kritik an der bisherigen offiziellen "Vergangenheitsbewältigung" wird nicht gespart, so zum Beispiel in Zeilingers fast kriminalistischem Beitrag über den NS-Bürgermeister Wolfgang Mitterdorfer, der im Tode zu einem Helden umfunktioniert wurde, nicht zu vergessen die Entschädigung von NS-Funktionären für nach 1945 geleistete "Zwangsarbeit". Nicht zuletzt besticht der Band durch sein vielfältiges, gut präsentiertes Fotomaterial und durch die städtebaulichen Pläne für Amstetten. So schnell die Verantwortlichen während der NS-Zeit den Hauptplatz mit symbolischen Zeichen wie dem vom Bildhauer Kunibert Zinner für den SA-Brunnen geschaffenen Mustermenschen anreicherten, so schwer tun sich Politiker heute mit Denkmälern für vertriebene und ermordete Juden. Der Sager während einer Gemeinderatssitzung "Es wird schon nicht so schlimm gewesen sein, wenn heute wieder ein Jude in Amstetten wohnt" zeigt, wie notwendig dieses Buch war. Nach der Aufregung über die Dokumentation und die Sprüche im Gemeinderat wurde vor wenigen Wochen nun doch ein Denkmal für Juden von Amstetten errichtet.

All diese Bücher sind Beispiele dafür, daß der Kampf um die eigene Vergangenheit nicht immer mit Niederlagen enden muß. Peter Schwarz in "Tulln ist judenrein": "Die Rückgabe des Wissens, das in Archiven lange Zeit verborgen lag, an das kollektive Gedächtnis vermag vielleicht allmählich die Schleier des Nichtsehenwollens und des Nichtverstehenkönnens zu lüften." Poetisch brachte dies Gustav Meyrink im "Golem" auf den Punkt: "Gräm' dich nicht, allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung."

"...es gab so nette Leute dort" Die zerstörte jüdische Gemeinde St. Pölten Von Christoph Lind Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, St. Pölten 1998 312 Seiten, brosch., öS 248,- TULLN IST JUDENREIN Die Geschichte der Tullner Juden und ihr Schicksal von 1938 bis 1945: Verfolgung - Vertreibung - Vernichtung Von Peter Schwarz Löcker Verlag, Wien 1998 375 Seiten, Bilder, geb., öS 398, FLUCHTSPUREN Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt Von Waltraud und Georg Neuhauser Edition Sandkorn, Grünbach 1998 329 Seiten, geb., öS 248,-

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