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Geschunden, erschossen, verscharrt: Das "Festival der Regionen" erinnert an den "Todesmarsch" ungarischer Juden durch das Kremstal.

Los Angeles, 30. April 1995: Bill Gordon sitzt in Anzug und Krawatte vor der Kamera. Die Blumen im Hintergrund sollen Harmonie verströmen, doch der alte Mann wirkt angespannt. Früher habe er Béla Goldstein geheißen, sagt er mit unsicherem Blick - und bricht abrupt ab, um sich die Tränen wegzuwischen.

Es ist jener Tag, an dem er für das "Shoah-Foundation Institute" der University of Southern California seine Lebensgeschichte erzählen soll. In Schwarz-Weiß und versehen mit dem Code 2274 wird sein Schicksal auf Video verewigt - wider das Vergessen und als Zeugnis jener Unmenschlichkeit, deren Menschen fähig sind.

April 1945, kurz vor Kriegsende: Béla Goldstein wird gemeinsam mit tausenden ungarischen Juden von SS, Volkssturmmännern, bewaffneten Zivilisten und zwölf-bis dreizehnjährigen Hitlerjungen von Graz nach Mauthausen getrieben. Das ist der grausame Höhepunkt einer Reihe von Schikanen. Bereits 1942, unter dem ungarischen "Reichsverweser" Miklós Horthy, wird Goldstein als 21-Jähriger in ein Arbeitslager nahe der ostungarischen Stadt Debrecen abkommandiert. Nach dem Putsch der faschistischen Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi Mitte Oktober 1944 treibt man ihn mit rund 50.000 anderen "Leihjuden" (die Zahl basiert auf Schätzungen) an die österreichisch-ungarische Grenze, um Schanzarbeiten am "Südostwall" durchzuführen. Als die Rote Armee Ende März 1945 näher rückt, werden die Überlebenden in Gewaltmärschen nach Mauthausen und Gunskirchen geschickt. Bis zu 40 Kilometer pro Tag sind zu bewältigen. Auf Befehl von Heinrich Himmler werden "Nichtmarschfähige" an Ort und Stelle erschossen. Fast jeder Dritte kommt um.

"Der Jud muss nix essen"

Béla Goldstein hat diesen " Todesmarsch" überlebt - und auch das Massaker am Präbichl bei Eisenerz, wo mehr als hundert Menschen von SA und Volkssturm wahllos erschossen wurden. Ob er dann die häufigere Route über das Ennstal nahm oder sich unter jenen rund 800 Menschen befand, die sich über den Pyhrnpass und durch das Kremstal kämpften, weiß er nicht mehr. Doch die Erinnerung daran, wie Tiere mit Gewehrkolben, Bajonetten und Schlagstöcken "through a beautiful austrian landscape" getrieben zu werden, verfolgt ihn bis heute. "Wir hatten nichts zu essen", erzählt er mit glasigem Blick. "Einmal kam ein Bauer mit einem Kartoffelwagen, und die Leute wollten auf den Wagen springen. Doch die SS hat sie alle erschossen." Drei gleichaltrige Freunde seien sie gewesen. Um nicht zu verhungern, habe man am Straßenrand Grasbüschel ausgerissen oder Schnecken und Würmer verzehrt. Wurde man von den Wachmannschaften erwischt, war man des Todes. "Der Jud muss nix essen", hieß es. "Der Jud ist kein Mensch." An Hilfe aus der Bevölkerung sei kaum zu denken gewesen: "Wir gingen durch die Dörfer, doch die SS hat die Bewohner gewarnt, dass wir in ihre Häuser kommen würden. Und so standen sie vor den Haustüren mit Gewehren in der Hand - und richteten sie gegen uns."

Spätes Erinnern

Die Kinder und Enkel derer, die da standen, bekommen nun Gordons Video zu Gesicht. Im Rahmen des diesjährigen Festivals der Regionen (siehe Kasten) wird dieses dunkle Kapitel lokaler Zeitgeschichte erstmals breit thematisiert. Eine gelbe Bodenlinie mitten durch die Zentren von Kirchdorf und Windischgarsten soll an den Weg erinnern, den die Todesmärsche nahmen. Und die Erzählungen von Überlebenden - darunter jene Bill Gordons - werden entlang des Weges und in einer Ausstellung präsentiert.

Bereits Anfang Mai kam Szabolcs Szita, wissenschaftlicher Leiter des Holocaust Dokumentationszentrums in Budapest, zu Besuch in die Region. Auf Einladung der Kulturinitiative Die Literarischen Nahversorger las er aus seinen Büchern - und provozierte Fragen, auf die es keine erträglichen Antworten gibt: Was würde mit den tausenden Juden nach Meinung der Augenzeugen in Mauthausen geschehen? Und wie konnte sich angesichts dieses Ereignisses der Mythos bilden, man habe von den Verbrechen der Nazis nichts gewusst?

Die Initiative zu dieser späten Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit kam von außen: Der Münchner Künstler Wolfram P. Kastner war in der Zeitschrift des Zeitmuseums Ebensee auf einen Artikel über den Todesmarsch der ungarischen Juden über den Pyhrn aus dem Jahr 1999 gestoßen. Er recherchierte, suchte in den Beständen der von Steven Spielberg initiierten Shoah-Foundation nach Überlebenden - und begann, unangenehme Fragen zu stellen: Wie viele Volkssturm-Männer, Hitlerjungen und SS-ler aus dem Kremstal waren an den Verbrechen beteiligt? Wie viele Zaungäste haben zugeschaut, voll Hass gegen die ungarischen Juden, einverstanden mit der Gewalt gegen sie? Angefragt von Kastner begann der Kirchdorfer Historiker Anton Aschauer, Zeitzeugen zu befragen. So entsteht ein vages Bild dessen, was damals - vor aller Augen - geschah:

"Schon einige Zeit vorher war die Nachricht ergangen, dass Juden durchgetrieben werden", berichtet einer. "Dann kam der schier endlos scheinende Zug zerlumpter, verhungerter Gestalten mit tief liegenden Augen. (…) Beim Anblick dieser Jammergestalten herrschte Totenstille. Keiner sagte ein Wort."

"Die SS-Bewacher nahmen uns unser Leiterwägelchen weg und warfen einen gänzlich Erschöpften, den vorher andere gestützt hatten, darauf", erzählt eine andere. "Nach dem Ortsausgang von Kirchdorf war schon ein Loch gegraben worden, in das warf man den Mann, obwohl er noch lebte. Ob man ihn noch getötet hat, weiß ich nicht, da wir unseren Leiterwagen nahmen und entsetzt wegliefen. Noch heute träume ich davon."

Eine dritte erinnert an ihre Mutter, die einen Topf voll Kartoffeln hinausgestellt habe, als die Marschkolonne ihr Haus passierte. Nur mit Glück sei sie einer Verhaftung entgangen.

Es gab sie also, die Gerechten. Doch es gab auch jene, die "Ihr Saujuden! Wegen euch verlieren wir den Krieg!" krakeelten. Und es gab nicht zuletzt jene, denen die Hetze nicht weit genug ging: Ein Gendarm des Postens Sierning erinnert sich, "dass von der Gärtnersfrau G. Anzeige erstattet wurde, dass sich in der Nähe des Friedhofes noch Juden aufhalten, die der Erschießung entkommen sind".

Einspruch gegen Vergessen

Während in Sierning (Bezirk Steyr-Land) eine Tafel das Geschehene lebendig hält, erinnert im Bezirk Kirchdorf kein einziger Gedenkstein an die Verbrechen. Von sechs Opfern sprechen die offiziellen Aufzeichnungen. Zeitzeugen und inoffizielle Berichte lassen indes auf mindestens doppelt so viele Ermordete schließen. Wo diese Verhungerten, Erschlagenen und Erschossenen verscharrt wurden, ist bis heute unbekannt - erst Recht ihre Namen und Gesichter. "Das Ziel der Verbrecher wurde erreicht", klagt Wolfram P. Kastner. "Die zu Tode geschundenen Menschen sind aus dem Leben und aus der Erinnerung ausgelöscht."

Das Projekt Furchtbare Wege sei ein Einspruch dagegen: Zumindest die Überlebenden sollten sprechen, andere Getötete beim Namen nennen und es so ermöglichen, ihrer zu gedenken. Auch der heute 86-jährige Bill Gordon wurde persönlich eingeladen. "Aus gesundheitlichen Gründen kann er aber nicht kommen", berichtet der Leiter des Festivals der Regionen, Martin Fritz. "Er lässt aber allen Beteiligten ausrichten, wie gut es ihm tut zu hören, dass sich über 60 Jahre danach noch Menschen dafür interessieren." Außerdem habe er die Österreicher auch in guter Erinnerung: Als er 1956 im Zuge des Ungarn-Aufstandes ein zweites Mal unter dramatischen Umständen die Grenze überschreiten musste, habe man ihn hier bestmöglich unterstützt.

Elf Jahre zuvor hat man ihn entmenscht.

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