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Demokratie unter Sombreros
Ein uruguayischer Vater legt seinem Kinde zwei Mitgliedskarten in die Wiege. Die eine lautet auf den Fußballklub „Fenarol” oder „Nacio- nal”, die andere auf den „Partido Colorado” („Rote Partei”) oder „Partido Nacional”, auch „Partido Blanco” („Weiße Partei”) genannt. Aber diese traditionellen Parteien, die man oft mit den nordamerikanischen Demokraten und Republikanern verglichen hat, haben außer dem historischen Pathos nur die Aufgabe, durch ein einheitliches Wahl-„lema” („Wahlmotto”) ihr Auseinanderfallen in zahllose Splittergruppen zu verhindern und so das 2-Parteien-System aufrechtzuerhalten. Tatsächlich sind unter den Par- teinamen zahlreiche Fraktionen zusammengefaßt, die meist einem Politiker folgen, der eigene Parteiklubs unterhält Dadurch beruhen die internen Parteikämpfe meist auf persönlichen, zuweilen aber auch auf sachlichen Gegensätzen, zum Beispiel über die Frage, ob das Land mit sogenannter liberaler oder gelenkter Wirtschaftspolitik verwaltet werden soll.
Die Kämpfe innerhalb der „Colo- rado”-Partei hatten in der Zeit des Präsidenten Gestido einen solchen Grad erreicht, daß die Regierungs-, führung praktisch gelähmt war. Hinzu trat eine Welle von zum Teil willkürlichen Streiks. Der Herztod des Präsidenten Gestido und die vorübergehende Verhaftung einiger castroistischer Revolutionäre hat eine gewisse Schockwirkung ausgeübt. Das politische Klima hat gewechselt. Die „Colorados” wahren nach außen hin die Einheit. Es wird seltener gestreikt — und mit gutem Grund; ein großer Teil der Beamten hat Ende April noch nicht das Märzgehalt bekommen. Der neue Präsident Jorge Pacheco Areco ist kein Berufspolitiker, sondern ein geschickter Journalist, der durch Zufall zusammen mit Gestido Kandidat zur Vizepräsidentschaft wurde. Man hört aus seinem Munde beredte Phrasen, wie sie seinem Amt entsprechen. Er ist beliebt, weil er keiner Interessentengruppe „meto” sagt. Man kann keine Zeitung aufschlagein, ohne ihn afogebildet zu sehen, lächelnd, to gutsitzenden Frack bei einam Botschaftsempfang.
Wirtschaftskrise ohne Ende
Den Zeitungen geht es schlecht Zwar haben sie in Anpassung an die Inflationsspirale nach langen Streiks die Gehälter um 83 Prozent erhöhen müssen, aber die Zeitungsverleger werden sie kaum zahlen können. Sie haben den Preis der Zeitungen in kurzer Zeit (auf 20 Pesos, zirka 2,50 Schilling) verdreifacht. Aber die Zahl der Käufer ist auf unter die Hälfte und die Anzeigen noch weit mehr zurückgegangen. Schon sind zwei der zwölf Montevideaner Tageszeitungen eingegangien. Die Journalist ! finden keine neue Arbeit. Zwar sind sie oder ihre Ehefrauen meist nebenbei Staatsbeamte, aber das Gehalt (im Durchschnitt etwa 15.000 Pesos, zirka 300 DM) reicht nicht bei den gestiegenen Lebenshaltungskosten.
Obwohl die Anstellung bei den Behörden ohne Vor- und Ausbildung durch die Empfehlung eines Politikers gleichzeitig diesem Wahlstim- men und dem Angestellten Ersatz für Arbeitslosenunterstützung verschafft, steigt die Zahl der Arbeitsuchenden in erschreckendem Maße. Das kleine Uruguay bot schon tomei so geringe Möglichkeiten, daß bin großer Teil der Bevölkerung in die großen Nachbarstaaten emigrierte.
Etwa zweieinhalb Millionen lebten im Lande, 680.000 Uruguayer ln Buenos Aires und etwa die gleiche Zahl in Südbrasilien. Wohlhabende Eltern schicken ihre Söhne auf nord- amerikanische Universitäten. Prominente Wissenschaftler suchen meist im Auslande Lehrstühle und For- schungsstätten. Jetzt droht aber Uruguay auszubluten: Tausende junger Leute, Ärzte, Ingenieure, Techniker, Studenten, Handwerker und Hausangestellte, stehen vor dem Außenministerium Schlange, um sich Pässe zu besorgen. Da sie nach Argentinien mit ihren Polizeiausweisen reisen können, müssen sie sich fernere Ziele zur Auswanderung gesucht haben. Die meisten ziehen in die USA.
Uruguay ist schon immer ein Rentnerland gewesen. Jetzt wird es ein Staat ohne Jugend.
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