6742532-1966_47_11.jpg
Digital In Arbeit

Der Mord von Sarajewo

19451960198020002020

DAS GEHEIMNIS VON SARAJEWO. Von Hertha Pauli. Paul-Zsoinay-Verlag, Wien-Hamburg. Mit 22 Kunsttafeln, 37 Seiten. S 120.—.

19451960198020002020

DAS GEHEIMNIS VON SARAJEWO. Von Hertha Pauli. Paul-Zsoinay-Verlag, Wien-Hamburg. Mit 22 Kunsttafeln, 37 Seiten. S 120.—.

Werbung
Werbung
Werbung

Im Zug der ersten Verhaftungswelle, unmittelbar nach dem Attentat, nahm die Sarajewoer Polizei im Basar einen Handwerker fest, der eine „ehrfurchtverletzende Äußerung“ getan hatte: „Alle, ja, alle“, so sagte er, „die den Erzherzog nach Bosnien begleiteten, wußten genau, daß er umgebracht werden würde.“ Nach dem Krieg schrieb Bresnitz von Sydakoff, Konfident, Journalist und Balkanexperte: „Die Wahrheit ist, daß Franz Ferdinand einer geheimen Mafia, deren Fäden bis in die Vorzimmer des alten Kaisers reichten, zum Opfer fiel.“ Auch der Publizist Wickham Steed hatte den Spieß umgedreht; er gab Wien und nicht Belgrad die Hauptschuld und leistete damit der Kriegspropaganda gegen Österreich-Ungarn Vorschub. Heute, nach fünfzehn Dezennien, kann es nicht schwer fallen, vage Vermutungen weitgehendst auszuschalten, die meisten Archive sind offen, ernste Untersuchungen möglich. Nicht ohne Spannung greift man deshalb nach empfohlenen Neuerscheinungen über dieses Thema, zumal der Verlag auf neue Quellen verweist und die wissenschaftliche Akribie der Autorin lobt. Auch der Titel und erst recht das an der Spitze stehende Motto, „Das Geheimnis von Sarajewo ist ebenso gut gehütet worden wie das von Mayerling“, versprechen Klarstellungen.

Wer hatte die Wahrheit zu fürchten? Am Ende doch die Vorzimmermafia? Bestimmte Beamte? Fürst Montenuovo? Frau Pauli gibt in dieser Hinsicht sich mit Details nicht ab, ja sie übertrumpft durch ihre Überlegungen noch die oben erwähnten Vorgänger: Hatte Bresnitz nur das Antichambre der Hofburg in den Verdacht miteinbezogen, ist bei Frau Pauli der Kaiser selbst mit von der Partie. Franz Joseph als Helfershelfer der Mlada bosna? So ungefähr. Oder irre ich mich? Auf Seite 327 zitiert sie: „Es war dem Kaiser klar, welche Gefahr der

Thronfolger lief. Er sah einfach zu.“ Beweise jedoch bleibt uns Frau Pauli schuldig. Das heißt, sie interpretiert den von Margutti überlieferten Ausspruch, „Eine höhere Gewalt hat wieder jene Ordnung hergestellt, die ich leider nicht zu halten vermochte...“, wie es ihr paßt und zwar eindeutig. Aber drückt dieser Satz wirklich des Kaisers Befriedigung über den Mord aus? Daß der Kaiser bei der Totenmesse „nicht die geringste Spur von Ergriffenheit zeigte“, wird ebenfalls als Indiz bewertet. Als ob er bei anderen Gelegenheiten Gefühle zur Schau gestellt hätte! Man kann, so man will, dem Vierundachtzigjährigen alles Mögliche vorwerfen, aber ihm Kurzschlußreaktionen, Unbesonnenheit oder gar Abenteurersinn anzudichten, Verantwortungsbewußtsein abzusprechen, ist einfach lächerlich. Eine Ehrenrettung hat der Kaiser nicht nötig. Es geht hier um die Frivolität der Betrachtung und um den Soliditätsgrund einer Forschungsarbeit. Frau Pauli erfindet Ministerien, die es nie gab, zum Beispiel ein „ungarisches Außenministerium“ (Seite 176), sie „entläßt“ (Seite 298) Aehrenthal, der als aktiver Außenminister gestorben ist, ernennt ihn im Handumdrehen zum „Innenminister“ (Seite 294) und so fort. Die Kapitel über das Geheimnis verraten falsche Literaturauswahl und Mangel an Aktenkenntnis. Auch Mangel an Augenschein. Der Appelkai als die „breiteste Straße von Sarajewo“? Das war der Kai weder 1914 noch ist er es heute. Irgendwo ist die Rede von den „Volksmassen auf beiden Seiten der Cumurja- brücke“. Eine absurde Vorstellung. Seite 362: Am Appelkai sind bei Pauli „die Fußspuren nachgebildet worden, an der Stelle, von wo er (Prinčip) die tödlichen Schüsse abgab“. Nein, die Abdrücke der Fußspuren befinden sich nicht am Kai, sondern in der damaligen Franz- Joseph-Straße, dort wo Prinčip wartete. Das ist ein kriminalistisch bedeutsamer Umstand und ein Hinweis auf den tragischen Fahrtirrtum, von dem man nicht weiß, ob es ein „Irrtum“ war, und der absolut eine Disziplinär- oder Strafuntersuchung gegen eine Anzahl von Funktionären (Polizeichauffeure, Regierungskommissär, Bürgermeister und auch den Landeschef) nach sich ziehen hätte müssen. Wenn vertuscht wurde, dann in Bosnien. Wäre nämlich der Unglüokswagen nicht auftragswidrig beim Schillereck eingebogen (was Potiorek in seinem Bericht an den Kaiser verschwieg), dann hätte Prinčip aller Wahrscheinlichkeit nach gar keine Ge legenheit zu seiner Tat gehabt.

Schade um die versäumten Gelegenheiten! Vage Vermutungen hätten ausgemerzt, falsche Vorstellungen, im Ausland noch weit verbreitet, revidiert werden können. Der Verlag kündigt sogar eine englische und eine amerikanische Ausgabe an. Wer Information sucht, holt immer noch besser den Roman „Apis und Este“ aus dem Schrank.

Gut gelungen ist der Autorin der Epilog, der allerdings mit dem Thema unmittelbar nichts zu tun hat. Es ist das Hohelied auf die mannhafte Haltung und den Patriotismus der Söhne Franz Ferdinands im Nazi-KZ. Das und die mit Herz geschriebene Schilderung der Tage, „da ein junger Erzherzog auf der Soiree sein Schicksal traf“, garantiert diesem flotten, allzu flotten Buch trotz aller Einwände seinen Leserkreis.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung