6588294-1952_09_06.jpg

Die Amisch

19451960198020002020

Wie lebt, was glaubt die Gemeinschaft der "Amisch"? Und was ist ihre Geschichte? Ein Bericht aus Cleveland, Ohio.

19451960198020002020

Wie lebt, was glaubt die Gemeinschaft der "Amisch"? Und was ist ihre Geschichte? Ein Bericht aus Cleveland, Ohio.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Farmer Jacob Spinner hatte die Kirchenoberen seiner Gemeinde vor das Distriktgericht laden lassen. Er beschuldigte sie, sie hätten ihn in Acht und Bann getan, wodurch ihm großer seelischer und materieller Schaden zugefügt worden sei. Er hatte beantragt, ihm eine Summe von 4000 Dollar als Schadenersatz zuzusprechen. Sein Leben und das Leben seiner Familie sei unerträglich geworden, sagte er in seiner Klageschrift, alle Mitglieder der Gemeinde hätten sich von ihm abgewendet, seine Verwandten und die Verwandten seiner Frau sich von ihm abgekehrt, selbst die Teilnahme am Gottesdienst sei ihm verweigert, seine Felder lägen brach, da er sie ohne der Mithilfe seiner Amisch-Brüder nicht bestellen könne. Mein Klient, rief der Anwalt des Jacob Spinner aus, hat nichts weiter getan als ein Automobil gekauft. Er mußte dieses Automobil kaufen, denn eines seiner Kinder war erkrankt und mußte sich in der Stadt einer ständigen ärztlichen Behandlung unterziehen. Kein Amisch kann mit seinem altertümlichen Pferdewagen in der Großstadt herumfahren. Jedermann weiß das. Der Kauf des Automobils war ein gottgefälliges Werk, um die Gesundheit eines Kindes zu retten. Jacob Spinner verdient nicht, aus seiner Gemeinde ausgestoßen zu werden, der er und seine Vorfahren seit fast 300 Jahren angehören.

Dies alles und noch mehr wurde während einer Verhandlung vorgebracht, die der Richter des Distriktgerichts von Akron, Ohio — einer Stadt von 300.000 Einwohnern und Zentrum der amerikanischen Gummiindustrie —, anberaumt hatte. Wer ist Jacob Spinner? Wer sind die Kirchenoberen, die Spinner vor ein weltliches Gericht zu zitieren wagte? Wer sind die Amisch?

Der Ursprung der Amisch liegt im 16. Jahrhundert. Damals rief die Sekte der Mennoniten eine Bewegung gegen die protestantische Reformation in der Schweiz ins Leben. Sie organisierte ihre Bewegung — wie sie behauptete — nach apostolischen Grundsätzen in Gemeinden, die der bürgerlichen Autorität den Gehorsam verweigerten. Ihre Richtung war nicht einheitlich. Im Jahre 1693 fiel ein in Bern lebender Priester namens Jacob Amman samt seinen Anhängern von der Hauptgruppe der Mennoniten ab. Die Ursache der Spaltung bildete die unüberbrückbare Verschiedenheit in der Auslegung jenes .Acht und Bann, dessentwegen mehr als 250 Jahre später Jacob Spinner vor dem Gericht in Akron, Ohio, Klage führte. Selbst Christus saß an einem Tisch mit den Sündern, zitierten die Vertreter der alten Richtung das Buch Matthäus. Sie wollten es mit Ausschließung des Sünders vom Heiligen Abendmahl sein Bewenden sein lassen.

Jacob Amman und seine Anhänger hingegen verlangten die Ausdehnung des Bannes auf das gesamte gesellschaftliche und familiäre Leben des Gefallenen. Bis zur Wiederaufnahme des Ausgeschlossenen sollten selbst Beziehungen zwischen Eheleuten oder zwischen Eltern und Kindern ausgeschlossen sein. Wiederholte Versuche, eine Einigung zwischen den beiden Gruppen herbeizuführen, scheiterten. Selbst ihre Verjagung aus einem großen Teil Westeuropas und ihre Flucht nach Amerika, das ihnen religiöse Freiheit zu gesichert hatte, führten zu keiner Versöhnung. Die Anhänger Jacob Ammans nannten sich nun die .Amisch und ein größerer Teil von ihnen ließ sich im östlichen Teil Pennsylvaniens oder im Osten Ohios nieder. Die Gesamtzahl der Amisch wird im heutigen Amerika auf rund 10.000 geschätzt. Jacob Spinner war einer von ihnen.

Nur keine Eitelkeit

Die kleine Gruppe der Amisch in dem dichtgefüllten Akroner Gerichtssaal bot ein eigenartiges Bild. Hier stand Jacob Spinner, der Farmer, dort saßen die drei Kirchenoberen. Alle hatten sie die typische Kleidung der Amisch an — lange, schwarze Hosen, einen kurzen Rock, ohne Außentaschen und ohne Knöpfe und Knopflöcher, nur mit Haken und Ösen verschlossen. Der weiße Kragen — ein Zeichen von Eitelkeit, ist verpönt, die Krawatte untersagt. Sie trugen Hemden in Lilafarbe. Die breitkrämpigen, schwarzen Hüte mit ihrer niederen Kopfform lagen neben ihnen. Ihre Gesichter waren von rundgeschnittenen Bärten umrahmt. Die Kopfhaare sind rückwärts bis zur Höhe der Ohren lang, vorne in einer Art Fransen zugeschnitten. Jeder Amisch, der alt genug ist, um der Kirchengemeinde beizutreten und zu heiraten, ist verpflichtet, diese Haar- und Barttracht zu tragen. Der Schnurrbart gilt als ein militärisches Symbol. Der Amisch lehnt jeglichen militärischen Dienst ab. Die Oberlippe ist daher ausrasiert.

Frau Spinner ist es, wie allen Amisch-Frauen, gestattet, ein farbiges Kleid zu tragen, aber es sind unauffällige Farben, ohne Streifen oder andere Muster. Ein einfaches Umhängtuch liegt über den Schultern. Eine schwarze Haube, aus steifem Material geschnitten und unter dem Kinn gebunden, gemahnt an holländische Bilder des Mittelalters. Sie bedeckt das glattgekämmte und in der Mitte gescheitelte Haar. Die Kinder saßen hinter der Mutter. Ihrem Äußeren nach sind sie ein getreues Ebenbild der Eltern: Die Knaben in den gleichen, langen und schwarzen Hosen des Vaters und die Mädchen mit dem gleichen bis zu den Füßen reichenden Rock der Mutter angetan. Nur die Haube des einen Mädchens war aus weißem Organdi, denn sie ist bereits 16 Jahre alt und wird die schwarze Haube erst tragen, wenn sie heiratet. Die ganze Erscheinung der Amisch atmete Abkehr von der übrigen Welt, in der sie ihr bäuerlich-religiöses Leben inmitten ihrer Siedlungen auf ihren Farmen verbringen. Die Kirchenoberen saßen auf der linken Seite vor dem Richtertisch. Kein Wort der Verantwortung kam über ihre Lippen. Aus ihren Gesichtszügen konnte man entnehmen, daß sie die Gründe ihrer Anwesenheit im Gerichtssaal einfach nicht verstanden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung