6564290-1949_29_03.jpg
Digital In Arbeit

Dimitroff

Werbung
Werbung
Werbung

Bulgarien ist das Land, über das die westliche Welt heute am wenigsten weiß. Georgi Dimitroff, sein Beherrscher seit 1945, liebte es weniger als alle anderen Kommunistenführer, vor den Augen der Öffentlichkeit zu agieren; bulgarische Zeitungen gehen nicht ins Ausland, und die wenigen ominösen Prozentzahlen über Wirtsdiafts- pläne und -leistungen, die verstreut in russischen, rumänischen und ungarischen Blättern auftauchen, vermitteln (so ist es Absicht) kein geschlossenes Bild über die heutige Situation dieses Landes.

Dimitroff liebte die große Öffentlichkeit nicht; dreißig Jahre seines Lebens hatte er in geheimen Klubs, unter falschen Namen, verborgen vor der Polizei für den Kommunismus gearbeitet. Auch als Ministerpräsident blieb er dem Grundsatz treu, daß man zuerst handeln und dann erst reden müsse, daß Diskussionen in einer breiten ungeschulten Öffentlichkeit unnütz und gefährlich seien, daß Demokratie erst dann einen Zweck hätte, sobald das ganze Volk von seinen Vorurteilen und aus seiner Rückständigkeit befreit ist. Dimitroff war Revolutionär par excellence, Berufsrevolutionär wie Lenin und nur wenige andere, die in scheinbar hoffnungsloser Minderheit ihre Meinungen dennoch immer durchzusetzen wußten und den legalen Kampf aus weltanschaulicher Überzeugung letztlich als undialektisch ablehnten und verachteten.

Als 15jähriger Buchdruckerlehrling begann Dimitroff seine Laufbahn als Revolutionär; mit der Ernennung zum Generalsekretär des Vollzugskomitees der Kommunistischen Internationale, der Komintern, hatte er 33 Jahre später den höchsten Rang in der Hierarchie jenes merkwürdigen Berufsstandes erklommen, dem der Kommunismus einen Gutteil seiner Erfolge verdankt. In der Zwischenzeit war er in Sofia zweimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, mehrmals verhaftet, mehrmals aus Gefängnissen entsprungen. In Wien, Prag, Berlin, Oslo, in Frankreich und Spanien arbeitete er an der Durchführung wichtiger Geheimaufträge, die er vom Kominternbüro erhielt. Seine Tätigkeit war immmer unabhängig von der der einzelnen kommunistischen Parteien, über den genauen Inhalt seiner Aufgaben wurde nie etwas bekannt.

Als die deutsche Geheime Staatspolizei zehn Tage nach dem Reichstagsbrand in Berlin einen gewissen Dr. Hediger, bulgarischen Staatsbürger, festnahm, war der Verhaftete: Georgi Dimitroff. Mit diesem Tag setzt eine merkwürdige Episode in Dimitroffs Leben ein. Er verteidigte sich vor dem Reichsgericht in Leipzig mit außerordentlicher Geschicklichkeit. Seine Dialektik brachte die Verhörenden zur Verzweiflung, so daß sie ihn mehrmals „wegen ungebührlichen Benehmens“ aus dem Verhandlungssaal entfernen ließen. Dimitroff wurde freigesprochen und, nachdem ihm die Sowjetunion die russische Staatsbürgerschaft zuerkannt hatte, aus der deutschen Haft entlassen und per Flugzeug an die russische Grenze gebracht. Stalin war von den Verteidigungsreden Dimitroffs in Leipzig so begeistert, daß er ihn kurzerhand zum Professor für russisches Recht an der Universität Moskau ernennen ließ. Dimitroff hatte nach seinem zwölften Lebensjahr keine Schule mehr besucht, er war ausgesprochener Autodidakt. Vom Universitätsprofessor avancierte er 1937 zum Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes der Sowjetunion. Sein Kollege auf der Anklägerbank war Generalstaatsanwalt Wyschinski.

Aber auch in dieser Zeit, in 3er Dimitroff zugleich das Generalsekretariat der Komintern leitete, gab der bulgarische Kommunist seine unmittelbar-revolutionäre Tätigkeit nįcht auf: er wurde monatelang in Moskau nicht gesehen, man munkelte davon, daß er in Ungnade gefallen wäre — in Wirklichkeit aber war er wieder auf Vorposten irgendwo im Ausland. Dimitroff war der Typ des „Illegalen“ schlechthin, der sich in keinem Augenblick seines Lebens vom Schreibtisch fesseln und damit von der unmittelbaren Berührung mit dem „Objekt“ seiner Tätigkeit entfernen ließ; in dieser Hinsicht steht die Gestalt Dimitroffs nahe derjenigen Lenins.

Die andere Episode in Dimitroffs Leben ist die viereinhalbjährige Tätigkeit als Ministerpräsident seiner Heimat, in die er Ende 1944 nach 22jähriger Abwesenheit mit den Sowjettruppen zurückkehrte. Von nationalen Ressentiments nicht gehemmt, setzte er das während der Kriegsjahre in Moskau entwickelte Programm zur Bildung von Volksdemokratien und ihrer Überleitung in den reinen, kommunistischen Sozialismus konsequent in die Tat um. Im Gegensatz zu Tito, der sein großer Gegenspieler war, mühte er sich nicht um die Bewahrung der nationalen Selbständigkeit gegenüber der Sowjetunion und war nationalistischen Strebungen nur insoweit zugänglich, als sie dem Titoschen Imperialismus im mazedonischen Raum Abbruch tun konnten.

Der von Dimitroff selbst konzipierte neue Fünfjahrplan der Bulgarischen Volkrepublik, der am 1. Jänner dieses Jahres in Kraft trat, zeigt die Dimitroffsche Politik im Fahrwasser jenes rücksichtslosen Industriali- sierungsstrebens, das schon seinerzeit von Lenin zur Erzielung des Sozialismus angewendet wurde, um die „fehlende“ Epoche des Hochkapitalismus zu überspringen und vom halbfeudalen System direkt zur kommunistischen Gesellschaftsordnung übergehen zu können. Aus einem Land, das vor dem Krieg 80 Prozent des Wertes seiner Gütererzeugung dem landwirtschaftlichen Sektor verdankte und in dem die Industrie auch heute erst 30 Prozent der Güterwerte herstellt, soll ein Industriestaat werden. Das Verhältnis Landwirtschaft zu Industrie soll auf 55 : 45 verschoben werden.

Mit diesem Programm und dem offen proklamierten von Monat zu Monat wachsenden Plansoll für den Umfang der vergesellschafteten Landwirtschaft gegenüber der privaten legte Dimitroff einen Radikalismus an den Tag, der von keinem anderen volksdemokratischen Land übertroffen oder auch nur erreicht wurde. Man hört, daß die bulgarischen Bauern der zunehmenden Sozialisierung in den letzten Monaten, nachdem sich Dimitroff am 18 April in ein Sanatorium bei Moskau begeben hatte, erfolgreich Widerstand entgegenzusetzen begannen und daß sich insbesondere die Genossenschaften gegen ihren Mißbrauch als Instrumente der Sozialisierung gestellt haben. Aber ein solcher Einzelerfolg läßt nicht darauf schließen, daß sich die Situation Bulgariens nunmehr nach dem Tode Dimitroffs von heute auf morgen ändern wird. Sollte sich Kolaroff, der im Augenblick die Geschäfte des Ministerpräsidenten führt und ein alter Kampfgenosse Dimitroffs aus dem Jahre 1923 ist, als zu schwach erweisen, dann wird das Kominformbüro nicht zögern, einen starken Mann in Bulgarien ans Ruder zu rufen: Das Erbe Dimitroffs wird nicht „vergeudet“ werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung