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Iwans bittere Tage

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Man ist schon irgendwie im Westen darauf eingestellt, jede Versammlung des obersten Parteigremiums, jede größere Rede Chruschtschows als Sensation zu werten, ob sie sich nun mit Sputniks, dem Tauwetter, Wirtschaft-fragen oder Desavouierungen der Vergangenheit oder noch lebender Parteigenossen beschäftigt. Nun, nach Chruschtschows fünfstündiger Rede vom 19. November und der darauffolgenden Diskussion und der noch nicht veröffentlichten Schlußrede Chruschtschows vom 23. November hat man sich im Westen mehr oder weniger darauf geeinigt, daß man im Pienum des ZK hauptsächlich nur Wirtschaftsthemen besprach und daß seine sensationelle Bedeutung — ohne Sensation geht es eben nicht — in der Würdigung der Rentabilität als Grundprinzip der Wirtschaft und damit der Anerkennung seiner eigenen „Pleite“ und der „Vorzüge“ der kapitalistischen Wirtschaft liegt. Im Westen wurde mit Entrüstung und Schadenfreude erklärt, daß die Einführung der Kontrolle eine Einführung des Spitzelsystems und damit eine Rückkehr zu den stalinistischen Methoden sei und einem innenpolitischen Rückschlag gleichkomme. Es sei dem unbenommen, der zu solchen Schlüssen kommt.

Die Reorganisation der Wirtschaft im Sinne des Rentabilitätsprinzips bedeutet jedoch im Grunde nichts Neues, da dies bereits seit den dreißiger Jahren von den Sowjets (also noch tief in der Stalin-Ära) zur Diskussion gestellt worden war. Damals führte c zur Stachanowbewegung: Mehrleistung, Mehrentlohnung, Prämien usw.; auch damals schrieben unsere Presse und so manche „Ostexperten“ von Verrat am Kommunismus und von den gezählten Tagen der Kremlherren. Mißverstanden wird auch im Westen das Thema der Kontrolle. Schließlich ist das, was Chruschtschow von seinen Leuten verlangt, genau das, was wir von unseren Mitmenschen erwarten: die Kontrolle des öffentlichen Lebens durch Presse und öffentliche Meinung, welche die Summe der Einzelmeinungen darstellt. Daß es natürlich Auswüchse einer solchen Kontrolle geben kann, beweist wohl die „Spiegel-Affäre“ und manche Erpressergeschichten, die hier und da unsere Öffentlichkeit vergiften. Natürlich kann es auch in der Sowjetunion passieren, daß Sowjetbürger im Denunzieren eine gewisse Aktivität entwickeln und daß das ganze höchst unschöne Formen annehmen kann.

Und doch enthielt die letzte Rede des Kremlchefs eine Sensation, vielleicht die bisher größte Sensation des Sowjetlebens überhaupt. Beim Lesen seiner Rede fällt auf, daß er sich eigentlich verhältnismäßig kurz zum Thema Stalin äußerte, aber das wenige in höchst bedeutsamen Worten kundtat. Unter Hinweis auf Stalins wiederholte Äußerung: „Wartet nur, wenn ich einmal sterbe, werdet ihr von den Kapitalisten aufgefressen“, kann Chruschtschow triumphierend ausrufen: „Sehen Sie, wir leben weiter, und w i wir leben l“

Eine andere, noch schwerwiegendere Antwort gab Chruschtschow auf indirektem Weg: er genehmigt den Druck des inzwischen in den Spalten der Weltpresse vielzitierten Gedichts von Ewtuschenko, „Die Erben Stalins“, über die Stalinisten von heute und der Novelle von Alexander S o 1-schenizyn mit dem unverfänglichen Titel „Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch“. Daß diese Novelle erschienen ist, daß sich einer getraute, über ein bislang sorgsam gemiedenes Thema, über das Leben in den KZ zu Stalins Zeiten, zu schreiben und daß sie gedruckt werden konnte, ist bereits eine Sensation. Daß sie aber mit Wissen und Förderung allerhöchster Stelle gedruckt wurde, das ist die wahre Sensation. Daß die Drucklegung fein säuberlich vorbereitet wurde, zeigt das von einem der profiliertesten Vertreter des sowjetischen literarischen Lebens, dem Dichter A. Twardowskij, geschriebene Vorwort. Twardowskij weist mit Nachdruck darauf hin, daß der Inhalt dieser Novelle für die Sowjetliteratur neu ist.und er hat recht, wenn er sagt, daß sie nicht einfach ein Bericht, sondern ein künstlerisches Werk ist. Man ist versucht zu behaupten, daß es — was seine künstlerische Form anbelangt — endlich Anschluß an die große Tradition der russischen Literatur, vor allem an Gogol, gefunden hat, daß dieses Buch ein Durchbruch einer neuen kulturellen Welle ist, deren Folgen noch nicht zu übersehen sind.

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