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Lenins Sieg...

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Unsere Zeit ist hektisch. Und Erinnerungen an vergangene Geschehnisse verblassen bald. Dennoch sollte gerade in diesen Tagen nicht auf jenes Ereignis vergessen werden, daß sich vor 50 Jahren abspielte:

Am 15. August 1920 geschah das sogenannte Wunder an der Weichsel. Pilsudski gelang mit seinen Armeen ein überlegener Sieg über die Sowjet-Russen.

Als sich Polen 1918 neu konstituierte, war es ein Staat mit lauter ungewissen Grenzen. Aus strategischen Gründen forderte Pilsudski ein Hinausschieben der östlichen Grenzen Polens, so weit als nur möglich. Und kam dadurch natürlich mit den Russen in Konflikt.

Stalin vertrat damals die Ansicht, man solle die Polen nur bis an ihre ethnographischen Grenzen zurücktreiben. Lenin aber war anderer Ansicht: Er wollte Warschau erobern. Denn dann, so hoffte er, würde in Polen eine bolschewistische Revolution ausbrechen, diese würde auf Deutschland übergreifen und so würde der Bolschewismus vor allem letzteres Land in den Griff bekommen.

Lenins Rechnung ging nicht auf. Wohl errang der ehemalige russische Gardeoffizier Graf Tuchat-schewski (Stalin ließ ihn 1937 ermorden) bedeutende strategische Erfolge in dem neuen Feldzug, wohl konnten die Reiterarmeen Budjennys in Gewaltmärschen bis vor Warschau vorstoßen, dann aber gelang es Pilsudski und seinen Ulanen, die Russen vor Warschau zu schlagen und zurückzutreiben. Polen blieb bis auf weiteres für Rußland verloren, bis ... Hitler kam und mit ihm die vierte Teilung Polens, schließlich die völlige Unterwerfung Polens unter das kommunistische Diktat.

Warum aber eine Erinnerung an das Wunder an der Weichsel? Was hat diese Erinnerung mit dem Heute zu tun? Sehr viel. Denn mit dem neuen Vertrag, den Rußland und Westdeutschland abschließen, zeichnet sich am Horizont eine Entwicklung ab, auf deren Grundlage sich annehmen läßt, daß Lenin seine Niederlage von 1920 nun doch noch in einen Sieg umwandeln kann. Auf Grund des neuen Vertrages bekennen sich Rußland und Westdeutschland nicht nur zu einem Gewaltverzicht, Deutschland anerkennt nicht nur die Oder-Neiße-Grenze und die neuen polnischen Grenzen, beide Staaten vereinbaren auch, daß eine friedliche Revision der bisherigen Grenzen möglich wäre. Diese gleiche Bestimmung enthielt auch der Vertrag von Versailles und, gestützt auf diese, „revisionierte“ Hitler die Grenzen von 1920, konnte er mit friedlicher Gewalt Österreich und das Sudetenland annektieren. Warum sollte auf ähnliche Weise der Osten nicht auch einmal Westdeutschland in den Griff bekommen? Nicht durch eine Annexion, sondern durch friedliche Einigung zwischen West- und Ostdeutschland, womit natürlich Ostdeutschland (und das heißt Rußland) genügend Einfluß in Westdeutschland hätte, um dieses zumindest zu neutralisieren.

Der neue Vertrag bringt Rußland viele Vorteile: Die Sicherheit an seinen Westgrenzen wird noch stärker. Die Möglichkeit, das westliche Verteidigungssystem empfindlich zu schwächen, rückt in greifbare Nähe. Deutschlands Vorteile dagegen sind gering: Die politischen Vorteile sind fast null, denn Deutschland handelte nicht die geringsten politischen Vorteile für sich ein. Nur auf wirtschaftlichem Gebiet wird der Vertrag für Deutschland sicherlich interessant sein, denn mit diesem wird der Osten als Absatzgebiet für die deutschen Waren geöffnet. Aber man darf nicht vergessen, daß sehr oft ein Kunde, der viele Waren bezieht, diktieren kann und daß über wirtschaftliche Umwege auch politische Wünsche vorgebracht und betont werden können.

Verträge zwischen Rußland und Preußen (und das heutige Westdeutschland geht doch auf das Deutschland von 1871 zurück und dieses wieder war nichts anderes als ein vergrößertes Preußen) sind nichts Neues. Immer aber brachten diese Verträge eine Wende der europäischen Politik mit sich:

• Der Vertrag zwischen Friedrich II. von Preußen und Rußland im Jahre 1762 beendete den Siebenjährigen Krieg zu Gunsten Preußens und verhinderte den Wiederaufstieg Österreichs. D;e-ser Vertrag war aber auch die Grundlage für die kommenden Verträge Deutschlands und Rußlands über die Teilung Polens.

• Der Vertrag vom 30. Dezember 1812 zwischen dem preußischen General York und den Russen war der Anfang von Napoleons endgültigem Sturz.

• Der Vertrag von Rapallo zwischen Deutschland und Sowjetrußland im Jahre 1922 machte den Vertrag von Versailles zunichte und legte den Grundstein für Hitlers Aufstieg. Denn von da an gestatteten die Russen der deutschen Reichswehr, alle jene Waffen in Rußland geheim aus-zuproben und deren Benützung zu erlernen, die ihnen auf Grund des Friedensvertrages verboten waren. Dadurch wurde die Reichswehr zum stärksten innenpolitischen Machtfaktor Deutschlands. 1925 besetzte sie bereits mit Hindenburg das höchste Amt des Staates und 1933 war sie es, die Hitler in den Sattel half.

• Und der Vertrag zwischen Hitler und Stalin vom August 1939 ermöglichte es Hitler, den zweiten Weltkrieg zu beginnen.

Die Grundlage aller dieser Verträge ist merkwürdigerweise eine geheime Sympathie, die Preußen und Russen trotz aller Gegensätze immer wieder füreinander empfanden und die es ihnen ermöglichte, einander immer wieder zu finden.

Zu oft aber nur zahlten bei diesen Verträgen alle jene Völker einen hohen Preis, die zwischen der russischen und preußischen Machtsphäre liegen. Vor allem waren es die Polen, die immer wieder unter diesen Verträgen litten und deren Staat auf Grund dieser Verträge viermal geteilt wurde. Polen wird auch diesmal der Leidtragende sein, denn noch stärker als bisher wird die Faust Rußlands auf ihm lasten. Aber auch die Rolle Ulbrichts wird nicht leicht sein und sich vielleicht in ähnlichen Formen abspielen, wie im Falle Polens. Ostdeutschland wird noch mehr nach der Pfeife Moskaus tanzen müssen als bisher, es wird auch Westdeutschland Konzessionen machen müssen, wenn dies Rußland so gefällt. Denn die Partnerschaft eines mit Rußland verbündeten Preußen war Rußland noch immer wichtiger als die Partnerschaft kleiner Staaten, die an seinen Grenzen lagen.

Wahrscheinlich wird sich dies alles bald deutlicher zeigen. Und das Wunder an der Weichsel, das aich vor 50 Jahren ereignete, wird endgültig vergessen sein.

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