Mit Shatterhands Stutzen

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Susanna Germanos Roman einer Kindheit hat alle Qualitäten eines potentiellen Kultbuches.

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Susanna Germanos Roman einer Kindheit hat alle Qualitäten eines potentiellen Kultbuches.

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Literaturkritik hat auch die Aufgabe, Brücken für den Leser zu bauen. Für Susanna Germanos Buch würde der Rezensent gerne eine achtspurige Autobahn errichten, damit viele Leserinnen und Leser schnell Zugang zu diesem Werk bekommen, das alle Qualitäten für ein Kultbuch besitzt. Eine österreichische Variante von Judith Kerrs "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" gilt es zu entdecken. Die Leichtigkeit, die Tiefe, der praktische und kämpferische Humanismus und die Menschenliebe, die in der Zeichnung der Figuren rund um eine Schauspielerfamilie zu spüren sind, machen aber auch deutlich, daß der Vergleich mit der Autobahn beträchtlich hinkt.

Mit Germano fahren Sie nämlich bestimmt nicht im Mainstream. Nicht, daß die Autorin, das Kind des Schauspielerehepaares Hans Jungbauer und Kitty Stengel, als Geisterfahrerin des Zeitgeistes unterwegs wäre, aber mit Goethe das Leben zu bewältigen, ist doch eine gewagte Sache, vor allem 1999. Das Goethe-Jahr ist vorüber und Goethe erscheint vorerst medial mehr als verbraucht. Eine Kleinigkeit allerdings für den Geheimrat, die sich in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten in regelmäßigen Abständen wiederholt hat, ohne dem Klassiker etwas anhaben zu können. Und doch, Literatur-Interessierte ermüdet nach diesem Jahr Goethe.

Bei solchen Nebenwirkungen eines Jubiläums ist es angebracht, nach dem Buch "Faust I und die Tante Helene" von Susanna Germano zu greifen. Jeder Überdruß wird verschwunden sein, und dies betrifft nicht nur Johann Wolfgang Goethe, denn er ist nicht der einzige, der entscheidend für Susannas Leben war. Ein anderer Wegbegleiter hieß Old Shatterhand, am liebsten wäre Susanna mit dem Henry-Stutzen ihres Helden gegen Hitler losgezogen. Goethe und Karl May werden in diesem Roman zu ungewöhnlichen Verbündeten.

Die 75jährige Susanna Germano, geborene Jungbauer, die in ihrem Leben bereits die verschiedensten Berufe ausgeübt hat, Philosophie in Wien und in den USA studierte, die als Übersetzerin aus dem Englischen und Italienischen ebenso gearbeitet hat wie als Lehrerin an einer Wiener AHS für Englisch und Philosophie, schafft es mit ihrem Romanerstling hoffentlich, sich ins literarische Gerede zu bringen. Als sechsjähriges Mädchen ist Susanna gezwungen, mit Faust zu leben, tagtäglich, denn ihre Eltern lernen die Rollen Fausts und Gretchens für eine legendäre Aufführung, und für Susanna werden die Dialoge, die wir heute höchstens als Zitate kennen, zum Alltag. Diese Worte und Sätze stehen am Anfang ihrer Menschwerdung. Doch nicht nur Faust, sondern auch ein gewisser Egmont sowie der Herzog von Alba bevölkern die Kinderstube, und die Leute lachen über den Herzog Alba, weil er so aussieht wie Hitler. Also ist der Hitler ein Tyrann wie der Alba, so Susannas Schluß. Die Autorin unternimmt eine gewagte Zeitreise und versetzt sich in ihre Kindheit, versucht die Konstruktion ihres eigenen Weltbildes zu erklären, nachzuzeichnen. "Ob alles wirklich so war?", schreibt sie in der Widmung an ihren Sohn, "Natürlich nicht! Aber es hätte genauso sein können. Ich interpretiere nicht, ich erzähle und lasse alle Spieler ihre Texte sprechen. Sie leben alle wieder ihr Leben, so wie ich es sah."

Die Erklärungen, die die Erwachsenen für Susanna bereit haben, sind wie Eisberge: Sie geben nur die Spitze der Wahrheit preis. Die unausweichlichen Kollisionen sind für die Leser jedoch wie ein befreiendes Bad in philosophischen Gewässern: betrifft dies nun die Erklärung, was und wer denn das Volk, was als volkstümlich zu bezeichnen sei, die Frage nach der Religionszugehörigkeit und dem Judentum. "Aber das Problem mit dem Volk ließ mir keine Ruhe. Auf dem Heimweg trugen Leute ein Plakat, da stand drauf: Deutschland dem deutschen Volk. Schön, dazu gehörten wir nicht. Wir waren ja aus Wien, und Wien war die Hauptstadt von Österreich. Aber dort gab es halt das österreichische Volk. Wenn wir nicht zum Volk gehörten, dann gehörten wir auch nicht zum österreichischen Volk. Oder? Ich fragte, aber die Mutti war nervös. Sag schon Mutti! - Ach hör auf damit, sagte sie, wir gehören nirgends hin, wir sind Künstler."

Als Hitler in Deutschland an die Macht kommt, übersiedelt zuerst Susanna mit dem Kindermädchen, der Tante Helene, nach Österreich. Die Eltern folgen nach, um am Volkstheater und an der Josefstadt zu spielen. Susanna besucht die legendäre Schwarzwaldschule von Eugenie Schwarzwald in der Wallnerstraße im ersten Bezirk, wo am ersten Schultag auch die schicksalsschwere Frage nach der Religion gestellt wird. "Es ging alphabetisch und fing mit Adelberg an. Ein Mäderl mit braunen Zöpfen. Anwesend. Religion? Mosaisch. Die Lehrerin schrieb in das Klassenbuch. Sie rief noch ein paar andere auf. Dann Jungbauer. Ich? Die Lehrerin nickte. Ich hatte anwesend vergessen. Anwesend bitte! Religion? Alle hatten bisher mosaisch gesagt. Was das war, wußte ich nicht. Vielleicht hieß das im Gymnasium fromm.

In der Volksschule war fromm immer günstig gewesen. Ich stotterte: Mosaisch. Die Lehrerin schaute mich ganz erstaunt an. Mosaisch, bist du da sicher? Ich spürte, wie ich ganz rot wurde. Deine letzten Zeugnisse sind doch vom Katholischen Schulverein... Und da steht's auch geschrieben. Bitte Frau Lehrerin... Frau Professor sagt man im Gymnasium... Bitte, Frau Professor, dann bin ich halt nur katholisch. Römisch-katholisch? Ich glaub schon... Na, ich glaub auch.

Diese Stelle verdeutlicht exemplarisch die Leichtigkeit und den Witz, der die Autorin ebensowenig verläßt wie ihre kämpferische Einstellung, die sie sich als glühende Verehrerin von Old Shatterhand angeeignet hat. Als die Nazis auch nach Österreich kommen und auch in der Schwarzwaldschule die "arischen" Schülerinnen von den jüdischen getrennt sitzen müssen, weigert sich Susanna, ihre Freundin Adelberg zu verlassen und verprügelt die BDM-Führerin in der Pause. Nur mit Mühe ist sie von der Direktorin zu überzeugen, sich zu entschuldigen, um nicht die Eltern und die Schule zu gefährden. Aber man muß doch etwas tun, ist ihre einzige Begründung.

"Unsere Tochter bringt uns noch ins KZ!" Der Ausweg liegt in einem Internat in der Schweiz. Jungmädchenträume und die erste Liebe folgen, und nun sind es andere Eisberge, auf die wir auffahren. Sie heißen zum Beispiel sexuelle Aufklärung. Susanna muß zu den Eltern zurück nach Deutschland, ist unglücklich, läßt sich bestätigen, daß sie kein Mitglied des BDM ist, um wieder auf Besuch in die Schweiz fahren zu können. Der Vater wird im Sommer 1941 verhaftet, weil er lautstark auf die Nazis geschimpft hat, als er in eine "Pimperlbahn" in Salzburg zur Zeit der Festspiele eingestiegen war und keinen Platz bekommen hatte, weil alle Abteile für Nazifunktionäre reserviert waren.

Freunde - unter anderen Theo Lingen - intervenieren für den Vater und Heinz Hilpert holt ihn nach seiner Freilassung nach Berlin. Wallenstein, Macbeth und Grillparzer begleiten Susanna durch die Nazizeit, so wird das Buch nicht nur zu einer spannenden Geschichte Österreichs zwischen Wien und Alt-Aussee, sondern auch eine andere, besondere Literaturgeschichte, bei der die Literatur nicht im elfenbeinernen Turm zu Hause ist, sondern als Wegweiser, Hilfe und Orientierung dient. Ein erfrischend altmodischer Zugang zu unserer klassischen Bildung.

Das Buch endet mit einem nicht geschriebenen Brief an die vor den Nazis geflohenen Freundinnen und Freunde, Susanna sitzt am 7. Mai 1945 in St. Wolfgang: "Und wenn auch die mich nicht begreifen können? Wenn auch für sie das, was ich all die Jahre hier erlebt habe, fade Geschichten sind? Wenn wir wenige nie wieder verstanden würden, auch nicht drüben von unseren Freunden? Wenn wir Fremde geworden sind im eigenen Land und in der ganzen Welt?"

Ein aktueller Schluß für einen historischen Roman, und in einer Situation, in der sich Österreich wieder einmal nicht verstanden fühlt. Doch Susanna Germano bliebe sich nicht selber treu, wenn dies die letzten Worte ihres Buches wären. Sie lauten: "Wir werden zusammenhalten und um das Verständnis kämpfen. Schon wieder kämpfen? Ich will nicht mehr kämpfen, nie mehr kämpfen. Ich will glücklich sein, triumphieren, leben. Und heute geh' ich tanzen mit dem dummen Larry und seinen lustigen Kumpanen. Tanzen mit den Siegern als Sieger..."

Faust I und die Tante Helene. Roman einer Kindheit. Von Susanna Germano. Mandelbaum Verlag, Wien 1999. 509 Seiten, geb., öS 348.-/e 25,29

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