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Probe auf das Exempel

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Die Tage des großen Jubels über den endlich erreichten Staatsvertrag sind vorüber. Das österreichische Volk hat zehn Jahre lang auf die von den Mächten dieser Welt verheißene Freiheit und Unabhängigkeit unter vielen bitteren Enttäuschungen gewartet; es hatte e:n Recht, zu jubeln, da es sich endlich am Ziel seiner Sehnsucht sah. Aber zwischen den Blättern mit den 3 8 Artikeln und ihren Annexen lauert noch manches ungelöste Problem. Und mit jedem Tag rückt uns die nackte Realität näher. Sie hat ihre Gefahren. Da sind vor allem die gesamten Bestimmungen über das „Deutsche Eigentum“, die ein Geschenk bedeuten könnteil, wenn sie nicht so viel Interpretation und advo-katorische Kniffigkeit zuließen und nicht drohen würden, Recht zu Unrecht werden zu lassen. Da halten wir Oesterreicher es an verschiedenen Stellen mit' dem. Dichter, dessen Wort das spanische Volk seit Jahrhunderten in seinem geistigen Gemeinbesitz aufbewahrt hat: ..Mein Vaterland will lieber Ehre ohne“Schilfe, als Schiffe ohne Ehre!“ Und gerne halten wir daran fest, daß auch in der österreichischen Republik über dem Wiener Burgtor der Leitsatz einer großen Vergangenheit angeschrieben steht, der als das Fundament der Staaten die Gerechtigkeit bezeichnet.

Das wird auch, soweit es auf uns ankommt, in der Anwendung des Staatsvertrages zu gelten haben, den wir nicht erfüllen wollen im Sinne- einer merkantilistischen Plusmacherei, sondern im Geiste ehrlicher Nachbarschaft und des Friedens, um den wir so lange gekämpft und Wunden am Leibe getragen haben.

Beginnen wir doch damit, eine Probe auf das Exempel zu machen — ein erreichbares Exempel zu setzen. Die Schicksale des öster-reichischenkleinenWalsertales und dasdortige Deutsche Eigentum sind keine überragende Dollarangelegenheit, doch an sie kann sich das notwendige Beispiel des guten Willens knüpfen. Machen wir den Anfang! Auf diesem österreichischen Fleck Erde, den auch 1100 deutsche Eigentümer von Grund- und Hausbesitz besiedeln, baut sich ein völkerrechtliches Kuriosum auf, das weitum nur in der Tiroler Gemeinde Jungholz, im Bezirk Reutte, seinesgleichen hat. Das Kleine Walsertal mit seiner aus drei Ortschaften bestehenden Gemeinde Mittelberg und insgesamt rund 3000 Einwohnern gehört zu der Bezirkshauptmannschaft Bregenz, ist von seinem österreichischen Hinterland durch eine zweitausend Meter hohe Gebirgskette getrennt, die nur auf Fußpfaden überschreitbar ist. Diese liegen den größten Teil des Jahres unter Schnee. Die einzige fahrbare Verbindung mit der Außenwelt führt nach Bayern. Wirtschaftsund währungspolitisch diesem Nachbarland verbunden, sind von diesem die Talbewohner mit allen ihren Lebensmöglichkeiten abhängig. Ihre Heimat bildet ein sogenanntes Zollausschlußgebiet, das am Rande der österreichischen Wirtschaftseinheit liegend, dem deutschen Zollsystem durch einen nachbarlichen Vertrag vom 2. Dezember 1890 angeschlossen ist. Wie das so geworden und geschehen ist, bildet den Inhalt einer noch nicht bis zum letzten erforschten Geschichte, die mit einer aus dem Schweizer Kanton Wallis erfolgten Einwanderung beginnt und bewegt wurde, als die moderne Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung in dieses einsame Gebirgstal hineinstieß und 1878 die erste Errichtung von Zollschranken herbeiführte. Damit begann aber auch der Beweis.daß man hier nichts über den gewohnten Leisten der Grenzfragenbehandlung schlagen kann. In diesem Tale, in dem zwei Drittel österreichische und ein Drittel deutsche Staatsbürger in einer beweiskräftigen guten Gemeinschaft unter einem tüchtigen österreichischen Bürgermeister beisammenwohnen, hat sich, wie man sagen kann, ein mustergültiges Gemeinwesen gebildet, dem kürzlich die Leiter des Deutsches Eigentum bildenden Kindererholungsheimes, durchaus deutsche Staatsangehörige, in einer Loyalitätskundgebung, gerichtet an das Gemeindeoberhaupt, mit den Worten Ausdruck gaben: ,,Wir bekennen uns zum Gedanken der Gemeinde als einer echten Lebensgemeinschaft, der wir uns verbunden und zugehörig wissen. Wir erachten es als vornehmste Aufgabe, aus dem Schicksalsweg der letzten zwei Jahrzehnte den einzig möglichen Nutzen zu ziehen, alle Ressentiments aus dieser Zeit in uns selbst und mit anderen zu überwinden und mis; in einem Gemeingeist zusammenzufinden, de'ssbn Gehalt die Werte der christlichen Kultur bilden.“ — Die Bewohnerschaft des Tales ist nun ausnahmslos bedroht, die meisten in ihrer Existenz erschüttert, wenn eine harte schrankenlose Anwendung des Artikels 22 des Staatsvertrages die bisherige, für beide Teile ertragreiche Ordnung aufsprengt. Wie eng verwoben hier das nachbarliche Leben ist, zeigt schon ein Blickauf die nüchternen Tatsachen: Deutsche Zollbeamte und österreichische Gendarmerie wohnen hier in Häusern, die dem deutschen Zollwesen gehören; der Postverkehr vollzieht sich unter deutschen Inlandsgebühren und im deutschen Postgeldverkehr, der Spargeldverkehr im Anschluß an den deutschen Giroverkehr. 98 Prozent des sehr lebendigen Fremdenverkehrs fließen aus dem deutschen Bundesgebiet zu. So wird es fast zu einer Selbstverständlichkeit, daß auf diesem österreichischen Hoheits-, aber deutschem Wirtschaftsgebiet, Devisen- und Währungsland, auch das deutsche Kapital in bedeutenden Investitionen arbeitet.

Und diese friedliche Ordnung dürfte durch die mechanische Anwendung des Staatsvertrages zerstört werden? Es gibt viel größere wirtschaftliche und finanzielle Probleme, die mit der Ausführung der Staatsvertragsbestimmungen über das Deutsche Eigentum zusammenhängen. Aber hier ist ein bildhaftes Beispiel gegeben, daß bei Anwendung des Begriffes Deutsches Eigentum kein allgemeines Schema gelten kann. Immer wird die Gerechtigkeit und Sittlichkeit Maßstab unseres Urteils und unseres Handelns sein müssen.

Das Wort in den Blättern der „Furche“ ist in kritischen Auseinandersetzungen zwischen dem großen deutschen Nachbarn und unserem Lande immer mit unerschütterlicher Treue auf Seite Oesterreichs und in rückhaltloser Offenheit gegen den stärkeren Teil gestanden. Aus den Motiven, die in diesen Zeitungsspalten immer maßgebend waren, erinnern wir auch jetzt daran, daß der Austrag zwischen Oesterreich und der Deutschen Bundesrepublik in be-zug auf das Deutsche Eigentum mit dem besten Einsatz unseres guten Willens eine' Angelegenheit der Ehre, der Gerechtigkeitsliebe und der österreichischen Geltung in der Welt als eine von keinen Kilometerzahlen umschriebene sittliche Macht wird sein müssen.

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