6644610-1958_16_06.jpg
Digital In Arbeit

Sozialismus oder Menschlichkeit?

Werbung
Werbung
Werbung

„Rom und London beneiden Wien“: So der Titel eines Berichtes der „Arbeiter-Zeitung“ vom 2*3. März 1958. Wer selbst nicht selten seine Heimatstadt, das neue wie das alte Wien, gerühmt hat, wird durch eine solche Meldung gerne angesprochen. Die nächste Zeile bringt indes schon schneidend zum Bewußtsein, daß der Neid des Auslands die vor der Eröffnung stehende Stadthalle — gewissermaßen ein von den Schattenseiten der Stadt ablenkendes Potem-kinsches Dorf — zum Gegenstand hat. daß er jedoch in peinliches Befremden umschlagen würde, wenn die.neiderfüllten Fremden die großen Krankensäle unserer Spitäler als Besucher oder gar als Patienten kennenlernten. Schon als jüngster rechtskundiger Beamter des k. k. Ministeriums für soziale Verwaltung und sodann als Extraordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht zogen mich die Fürsorgeeinrichtungen — als die wichtigsten praktischen Nutzanwendungen meiner Disziplinen — an, und auch im Ausland zog ich das Experimentierfeld der Sozialpolitik allen Stätten seichten Vergnügens vor. Ein als Fußgeher erlittener Unfall auf der Straße bot mir durch mehrwöchigen Spitalsaufenthalt einen Vergleichsmaßstab mit heimischen Einrichtungen. Da bei Behörden und Zeitungen gemachte Anregungen ergebnislos blieben, versuchte ich für besonders wichtige legislative und administrative Anliegen die großen Parlamentsfraktionen zu interessieren.

Auf ein am 11. Mai 1956 an den Klub der sozialistischen Abgeordneten und Bundesräte gerichtetes Schreiben erhielt ich in bezug auf meine Feststellungen über die Rückständigkeit der Mehrzahl der Wiener Krankenanstalten von dem damaligen Klubobmann Herrn Abgeordneten Dr. Pittermann folgende dankenswert freimütige Antwort: „Mit Ihrer Bemerkung über die Spitäler haben Sie mir aus der Seele gesprochen. Wir bemühen uns seit einem Jahr, das Krankenanstaltengesetz durchzusetzen. Solange dieses Gesetz nicht da ist, wird das Spitälerbauen und -erhalten ein immer größeres Defizit, das ohne Beitrage des Bundes selbst finanzstarke Gemeinden nicht leicht tragen können.“ Die damals vom heutigen Herrn Vizekanzler aufgestellte Voraussetzung ist nun längst erfüllt, doch auch ohne Bundeshilfe konnte die Stadt Wien den bisherigen Aufwand für die Stadthalle von mehr als 200 Millionen Schilling tragen, obgleich die Errichtung eines Tanzsaales aus städtischen Mitteln oder von sechs nach der Schilderung der „A.-Z.“ in Europa konkurrenzlosen Kegelbahnen selbst bei großzügiger Deutung des Vergnügungsbedürfnisses gewisser Bewohner- ufid WShlerschichteh doch nicht entfernt den Dringlichkeitsgrad' der heutigen Spitalsnot von Wien hat. In einem überaus höflich gehaltenen Schreiben an Herrn Bürgermeister Jonas vom 30. August 1956 bat ich vom Standpunkt meines Lehrfaches Verwaltungswissenschaft, zu dem auch das Kommunalwesen gehört, um die Wahrung der Rangordnung der Dringlichkeit bei den städtischen Planungen, jedoch vermied ich. um der Sache nicht zu schaden, die Feststellung, daß die Ausführung der weitgespannten Baupläne vor der Abstellung der ärgsten Spitalsnot (wie übrigens auch des Barackendaseins von längst eingebürgerten tau-senden Heimarvertriebenen), verwaltungsrechtlich gesehen, einen Ermessensmißbrauch bedeutet und dem Gehaben eines Primitiven gleichkommt, dem die Anschaffung eines Zylinderhutes den entscheidenden Schritt in die Zivilisation bedeutet. Finden es die zuständigen \mts-träger sozial und gerecht, daß just den Spitalsinsassen oft bis zum Tod drückende Raumnot unter Verzicht auf jede Schönheit, selbst auf das als Medizin wirkende Grün, auferlegt wird, während z. B. die gewiß nicht kapitalstarke deutsche Caritas ihre Krankensäle in Räume für zwei bis höchstens fünf Patienten umgewandelt hat?

Durch ausländische Patienten und durch ausländische Besucher, besonders Aerzte, ist ja leider die Tatsache auch ins Ausland gedrungen, daß in den Massenquartieren der Wiener Spitäler aus Raumnot Sterbenskranke ihre Bettnachbarn verscheiden sehen und daß selbst das Begehren nach solcher Spitalspflege in Dutzenden Fällen von ärztlich bescheinigter Todesgefahr unerfüllt bleiben muß. Mir sagte kürzlich ein Ausländer, er habe die ihm zugemutete Unterbringung in der Krankenanstalt einer Universitätsstadt nicht für möglich gehalten, und selbst ein loyaler sozialistischer Akademiker gestand mir den konsternierenden Eindruck, den seine sterbenskranke Mutter bei der Aufnahme in einen Krankensaal der Allgemeinen Poliklinik empfand. Man möchte hoffen, daß die dem Hörensagen nach hergestellten Lichtbilder nur als persönliche Andenken und nicht als negative Propaganda Verwendung finden. Kürzlich meinte ein hochgestellter Verteidiger der heutigen Praxis des „Abwartens“ (vielleicht der Wiedergeburt der Opfer des heutigen Notstands), die Kosten einer Sanierung der Wiener Spitäler seien nicht aufzubringen — und da sei es gescheiter, man mache Gesunden mit weniger Geld eine Freude.

Bedeutet die Ablehnung der Adaptierung des Brigitta-Spitals, durch die vielleicht dem ärgsten Bettenmangel abgeholfen werden könnte, eine Bejahung dieses unwürdigen Rezeptes? Glaubt man der Bewerbung um die Ehre einer „Hauptstadt Europas“-zu dienen, wenn Wien neben seinen positiven auch die negative Sehenswürdigkeit in der Kulturwelt konkurrenzloser Spitalsverhältnisse bietet? Soll das Gerücht weitere Nahrung erhalten, daß durch Einsparungen auf Kosten der Hilfsbedürftigsten wahltaktisch ergiebiger Aufwand für Schaustellungen der Stadthalle ermöglicht werden soll? Müssen uns die überlebenden Opfer des Hitler-Krieges, die durch dessen Folgeerscheinungen der Anstaltspflege bedürfen, nicht mindestens ebensoviel wert sein wie Gesunde, die bloß einen Beitrag für schönere Freizeitgestaltung erwarten? Gerade die Einstellung zu hilflosen Kranken ist Gradmesser der Zivilisation und Kultur.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung