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Vergessene Jahre

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DIE NS-JUSTIZ IN ÖSTERREICH UND IHRE OPFER. Von Maria Szecsi und Karl Stadler. Sammlung „Das einsame Gewissen“, Beiträge zur Geschichte Österreichs 1938 bis 1945. Verlag Herold, Wien-München, 1962. 126 Seiten. Preis 64 S.

Die „vergessenen Jahre“ nennt Gordon Shepherd in seiner „Österreichischen Odyssee“ die Jahre zwischen 1938 und 1945. Lange hatte es wirklich den Anschein, als ob diese böse, für die österreichische Selbstbesinnung aber so entscheidende Zeit aus dem Bewußtsein des offiziellen Österreich gelöscht sei. Jede Erinnerung war unbequem. Sie störte nur das politische Tagesgeschäft. Selbst ein Gedenken an die Opfer galt als „unzeitgemäß“ — von einet Verpflichtung, im Geiste dieser Toten zu handeln, ganz zu schweigen. Daran hat sich allerdings in letzter Zeit bereits einiges geändert. In der großen Politik ist der Wind umgesprungen, und auch im Inland gibt es immer mehr Wortmeldungen, die inmitten einer heute oft reichlich chaotischen Tagespolitik zu einer stärkeren Besinnung auf die Ursprünge dieses Staatet mahnen.

In diesem Sinn wollen wir auch den Beschluß des Ministerrates verstehen und aufrichtig begrüßen, zum 20. Jahrestag der Wiederherstellung der Republik Österreich eine große Dokumentation über den österreichischen Freiheitskampf vorzubereiten. Hoffen wir nur, daß diesem Beschluß nicht das gleiche Schicksal zuteil ,wird, wie der 1946 vom Nationalrat verabschiedeten Stiftung einer Befreiungsmedaille. Die Durchführungsbestimmungen wurden auf die bekannten griechischen Kaienden vertagt ...

Eine Ergänzung zu dem offiziellen Projekt — zugleich auch eine ständige Erinnerung — ist die neue zeitgeschichtliche Reihe „Das einsame Gewissen“. Die Theodor-Körner-Stiftung ist ihr Pate, der Verlag Herold hat die Ausführung und Herausgabe übernommen. Diese Konstellation scheint glücklich, verbürgt sie doch eine breite Basis für diese Beiträge, verhindert sie gleichzeitig eine vielleicht einseitige Interpretation, dokumentiert sie nicht zu-

9T9U mua isn iov um nnsn letzt das Wachsen eines g#Mtös$rrei-chischen Geschichtsbewußtseins, das die engen Grenzen der alten, weltanschaulichen und politischen Lager schon lange gesprengt hat.

Dem ersten, bereits vorliegenden Band der neuen Reihe möchten wir den Charakter einer Proseminararbeit zumessen, die uns in die Bearbeitung weiterer Themen verheißen soll. Maria Szecsi und Karl Stadler haben sich der Mühe unterzogen, in den Aktengräbern des Justizministeriums nach einschlägigen politischen Justizakten aus den Jahren von 1938 bis 1945 zu forschen, um Einblick in die Methoden der NS-Justiz in Österreich zu bekommen. Die Ausbeute war begrenzt, wanderten doch bei allen Taten wirklichen Widerstandes die Akten sofort an den Volksgerichtshof nach Berlin, wo sie entweder zugrunde gingen oder später auf Umwegen in ostdeutschen Gewahrsam hinüberwechselten. Hier befinden sich viele noch heute. Ähnlich verhält es sich mit den Akten der Militärgerichtshöfe, die nach Potsdam abgesandt wurden. Was in Wien zurückblieb, waren hauptsächlich die Akten der Sondergerichte und der „Besonderen Senate“ beim Oberlandesgericht Wien. Vor letzterem standen vor allem die „zweite Garnitur“ politischer Häftlinge, während sich vor ersteren in der Regel eher die „ganz kleinen Fische“ verantworten mußten, die — sagen wir es offen — mitunter weniger aus bewußtem Widerstand als eher aus Arglosigkeit und Unvernunft in die Fänge des Dritten Reiches und seiner Justiz geraten waren.

Nicht alle Zeugnisse, auf die die Verfasser stießen, sind deshalb als Wortmeldung des „einsamen Gewissens“ zu werten. Die meist recht grobschlächtigen Pamphlete scheinen eher Zeugnisse eines noch oricntierungslosen Räsonierens — es wäre deswegen kein Verlust gewesen, ihre Aufnahme in den vorliegenden Band einer rigoroseren Prüfung zu unterziehen. (An dieser Stelle muß der alte, unbequeme Kämpe Anton Orel vor der posthumen Fehlinterpretation „geistiger Verwandtschaft zum Nationalsozialismus“ [S. 80] in Schutz genommen werden.) Ansonsten rundet die Arbeit Maria Szecsis und Karl Stadlers manche Darstellungen des Rot-Weiß-Rot-Buches sowie des Buches von Otto Molden, „Ruf des Gewissens“, ab, erweitert einzelne Erkenntnisse, korrigiert andere, bringt aber im wesentlichen keine Erweiterung des Gesamtbildes.

Der Anfang zu einem erfreulichen Gemeinschaftswerk, das eine Lücke im Geschichtsbild vieler Österreicher schließen kann, ist jedoch gemacht. Mögen weitere, tiefergreifende Forschungen sich anschlic-ßen. Dr. Kurt Skalnik

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