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Es ist eine Binsenwahrheit, daß die wichtigsten Tage des gegenwärtigen Jahrhunderts die der zwei russischen Revolutionen waren; ohne sie hätten auch die anderen epochalen Tage eine ganz andere Bedeutung. Der Mord von Sarajewo hätte den Österreichern die Nachbarschaft der von Rußland beschirmten Königreiche Böhmen und Jugoslawien gebracht; die russische Spionage hätte das Geheimnis der Atombombe nicht schon von linksorientierten Wissenschaftlern, sondern erst von bestechlichen Generalstäblern erworben — und hätte es wahrlich keinen Chinesen mitgeteilt. Hier nun liegen vor uns die Erinnerungen des Mannes, der die Verantwortung für die Oktoberrevolution trägt; denn ihn hatte die Februarrevolution zur Macht erhöben. Zur Macht... ? Hier ist das Problem des demokratischen Halbjahres in Rußland enthalten. Die Macht ist der Provisorischen Regierung unter den Händen zerfallen.

Und doch war diese Regierung hoffnungsvoll an die Arbeit gegangen; von allen Seiten war sie freudig begrüßt worden. Denn wer war nach drei Kriegsjahren in Rußland nicht unzufrieden? Am unzufriedensten waren die, welche den Krieg wollten — die Slawen- und Entente-freundlichen Kreise der Intelligenz. Die wollten freilich ein Minimum von Revolution; eigentlich eine Palastrevolution, wonach Großfürst Nikolaus Regent (oder Kaiser) werden und die verjüngten Heere nach Konstantinopel, nach Posen und Prag führen sollte. Aber da kannte man die Revolution (und den Großfürsten) schlecht. Bald war der rechte Flügel der Revolution verdrängt, und Hauptperson war der Verfasser dieser Erinnerungen.

Einem so wichtigen Buch hätte man natürlich erstens eine perfekte Übersetzung gegönnt; und wieder einmal muß man an verschiedenen Kleinigkeiten erkennen, daß dem Ubersetzer die Realien des Themas nicht restlos bekannt sind. Außerdem wüßte man gem, warum er das „Kerensky“ des englischen Wortlauts in ein polnisches „Kerenski“ verwandelt hat. Zu toben sind die Bilder — mehr denn anderswo findet der Physiognomist volle Übereinstimmung zwischen Gesichtern und Schicksalen. Aus dem Inhalt des stattlichen Bandes kann man natürlich nur einzelne, psychologisch wichtige Züge auswählen.

Dieser freisinnige, dieser humanitäre Politiker erzählt ganz stolz, wie er in seiner Jugend zum Terrorismus, zum Mord bereit war. Also ein echter Revolutionär! Aber da ihm handgreiflich nahegebracht worden getan war, hat er sich in doppelter Hinsicht verteidigen wollen. Erstens gilt es, die Möglichkeit einer parlamentarischen Demokratie in Rußland zu beweisen. Dies tut er nun, indem er die kulturellen usw. Errungenschaften in den Jahren seit der Konstitution von 1905 aufzählt. Da setzt er sich freilich einem Dilemma aus. Konnte die Duma all das schaffen, dann bestanden also verfassungsmäßige Freiheiten — wozu die Revolution? War die Konstitution eine Posse, und der Kaiser ein Selbstherrscher — dann sind die Errungenschaften sein; beides zugleich geht nicht.

Zweitens will Kerensky sein Benehmen dem abgedankten Kaiser gegenüber rechtfertigen. Mit vollem Recht verweist er auf das, was er für dessen Sicherheit und leidliches Wohlergehen getan hat. Er geht noch weiter! Um seine eigene Gerechtigkeit und Großzügigkeit zu erweisen, spricht er über des Kaisers Vaterlandsliebe und Opferwilligkeit in Worten, wie sie kein Legitimist unbedingter wünschen konnte. Die Schuld an allem Übel gibt er dem

Regime und der kranwnaften Kaiserin — woran gewiß viel Wahres ist. Hier ist die Versuchung unwiderstehlich, an Vergleiche zu denken. Des Kaisers Nikolaus gleichzeitiger Amtsbruder in Österreich mit semer Gemahlin gab nie Anlaß auch nur für einen Verdacht krankhafter Zustände; Kaiser Karl konnte man kein Massaker von Demonstranten, keinen Progrom vorwerfen. Haben viele Urheber der österreichischen Revolution so klare Worte über ihn gefunden wie Kerensky über Nikolaus?

Auf eine Episode aber muß verwiesen werden. Kerensky war willens, den „Obersten Romanow“ nach England ausreisen zu lassen. Die englische liberale Regierung wollte ihn nicht aufnehmen. Wen wundert da Lienz und Bleiburg, wenn man den Verbündeten so behandelt?

Endlich mag die zahlreichen Leser von „Vom Zarenadler zur roten Fahne“ interessieren, was hier über das Betragen Krasnows in einem entscheidenden Moment erzählt wird; der begabte Romanautor hat in der praktischen Politik seinem Land alles andere denn gute Dienste geleistet.

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