6644468-1958_15_07.jpg
Digital In Arbeit

War sie gultig-oder nicht?

19451960198020002020

Die „Volksabstimmung“ vom 10. April 1938 Eine Untersuchung von nicht allein rechtshistorischem Interesse

19451960198020002020

Die „Volksabstimmung“ vom 10. April 1938 Eine Untersuchung von nicht allein rechtshistorischem Interesse

Werbung
Werbung
Werbung

I. Okkupation oder Annexion?

Die zwischenstaatlichen Verhandlungen über das Schicksal des sogenannten deutschen Vermögens in Oesterreich und die beiderseitigen Pressekommentare haben die Umstände des sogenannten „Anschlusses“ Oesterreichs an das Deutsche Reich ins Licht gerückt und diesseits und jenseits der Grenzen neuerliche Erörterungen über die Frage der Rechtswirksamkeit dieses Staatsaktes ausgelöst. Im Zuge der parlamentarischen Verhandlungen über die Ratifizierung des in Wien am 16. Juni 1957 von den beiderseitigen Bevollmächtigten unterzeichneten Vertragsentwurfes wird die Rechtswirksamkeit des Anschlusses neuerlich zur Diskussion gestellt und von den Rednern der einzelnen Fraktionen im österreichischen Nationalrat und Bundesrat einerseits, im deutschen Bundestag und Bundesrat anderseits vermutlich uneinheitlich beantwortet werden. Von dieser Vorfrage hängt nämlich das Urteil ab, ob Oesterreich rechtsgültig zum Bestandteil des nationalsozialistischen Reiches und die österreichischen Staatsbürger Bürger dieses Reiches geworden sind oder ob der unzweideutige Anschlußwille defäalsözialistiscyeffÄtsrMMf eitelS •'eri \ un? raüe?iiäeläT W Aufrechterhaltung seiner Rechtspersönlichkeit unter nationalsozialistische Fremdherrschaft geraten ist. Im Falle einer rechtsgültigen Annexion wären alle Eingriffe des nationalsozialistischen Reiches, besonders die Beschlagnahme des Goldschatzes und der Devisen der Oesterreichischen Nationalbank sowie die Anforderung der Devisen aus österreichischem Privatbesitz im zugegebenen Ausmaß von rund 1.700,000.000 Göldschilling und die Anspruchnahme von unermeßlichem Gut und Blut österreichischer Bürger für die Zwecke des Hitler-Krieges, zu Recht erfolgt. Im Falle einer bloßen Okkupation des österreichischen Staatsgebietes durch das Hitler-Reich wären die Rechtsnachfolger dieses Reiches, also die Deutsehe Bundesrepublik mit der Hauptstadt Bonn und die sogenannte Deutsche Demokratische Republik mit dem Regierungssitz in Pankow, nach dem Völkerrecht zum Ersatz aller durch die Okkupation ausgelösten Schäden verpflichtet. Bei einer solchen Tragweite der unterschiedlichen Deutung des Gesrhirhtsverlaufes ist es nsvcholop-isch verständlich, obwohl juristisch und unter Umständen moralisch nicht zu rechtfertigen, wenn das theoretische Urteil über die rechtliche Bedeutung des Geschehens durch die verschiedenen Rechtsfolgen des sogenannten „Anschlusses“ mit beeinflußt wird. Beiderseits ist mitunter der Bezeichnung der Staatsakte eine übertriebene rechtliche Bedeutung beigemessen worden. In unkritischer Weise werden selbst in dem nämlichen Gesetz oder Staatsvertrag die Ausdrücke Besetzung und Annexion für den nämlichen Tatbestand verwendet. Um die richtige Bedeutung solcher Ausdrücke in dem Zusammenhang, in dem sie verwendet werden, zu gewinnen, muß der gesamte Zusammenhang des betreffenden Staatsaktes ermittelt werden. Sogar die Feststellung der Präambel zum Staatsvertrag von Wien vom 15. Mai 1955, daß Oesterreich vom nationalsozialistischen Reich gewaltsam, also vorbehaltlich des künftigen Eintrittes der völkerrechtlichen Ersitzung, rechtsungültig annektiert worden sei, darf nicht überschätzt werden; sie ist zwar wissenschaftlich unanfechtbar, hat aber nicht den Charakter eines wissenschaftlichen Urteils und begründet außerhalb des Kreises der Vertragspartner keinen verbindlichen Beweis1.

Die moralische und rechtliche Stellung Oesterreichs in der vertragsmäßigen Vermögensauseinandersetzung zwischen den beiden Staaten ist begreiflicherweise unmeßbar stärker, wenn im Hintergrund des Vermögensausgleichs die unberichtigte, aber gewissermaßen schweigend abgeschriebene, gigantische vermögensrechtliche Forderung Oesterreichs aus dem Titel einer erzwungenen, völkerrechtlich unwirksamen Einverleibung Oesterreichs in das nationalsozialistische Reich steht.

1 Zur grundsätzlichen Problemlage vergleiche insbesondere Alfred Verdroß: Völkerrecht, 3. Auflage, S. 231. Zur Nutzanwendung auf Oesterreich Heinrich Benedikt : Geschichte der Republik Oesterreich, insbesondere den Beitrag von Stephan V e r o s t a ; ferner V e r o s t a : Die internationale Stellung Oesterreichs, 1937 bis 1947. (Beachtlich besonders der irrationelle Wechsel der Ausdrücke Okkupation und Annexion in den abgedruckten Rechtsquellen;) Adolf M e r k 1 : Der Anschluß Oesterreichs an das Deutsche Reith, eine Geschichtslegende; „Juristische Blätter“, 1955, S. 439 f.; Merkl: Vor und nach dem Vertrag mit Bonn; die österreichische Nation, Juli 1957, S. 97 ff.; Merkl: Statt eines Epilogs, Der Kompromiß über das Deutsche Eigentum und der ungelöste Rechtskonflikt; „Die Furche“, 27. August 1957; Merkl: War Oesterreich 1938 bis 1945 Bestandteil des Deutschen Reiches? „Archiv des öffentlichen Rechts“, 1957, Heft 4, S. 450 ff.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung