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Wendenstaat am Rande Böhmens?

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Nach einer Meldung aus Belgrad hat die jugoslawische Regierung der sowjetrussischen, tschechischen und polnischen Regierung offiziell mitge eilt, daß sie Doktor Rjenoals bevollmäditigten Gesandten der Lausitz in Jugoslawien anerkannt habe. Doktor Rjeno wurde von Marschall Tito empfangen und erhielt von diesem die Zusicherung seiner Unterstützung bei den weiteren Sdiritten der Lausitz zur Klärung ihrer Unabhängigkeit. Die Meldung läßt die Umrisse eines Problems von großer Tragweite erkennen.

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Nach einer Meldung aus Belgrad hat die jugoslawische Regierung der sowjetrussischen, tschechischen und polnischen Regierung offiziell mitge eilt, daß sie Doktor Rjenoals bevollmäditigten Gesandten der Lausitz in Jugoslawien anerkannt habe. Doktor Rjeno wurde von Marschall Tito empfangen und erhielt von diesem die Zusicherung seiner Unterstützung bei den weiteren Sdiritten der Lausitz zur Klärung ihrer Unabhängigkeit. Die Meldung läßt die Umrisse eines Problems von großer Tragweite erkennen.

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Neben den Vertretern der Großmächte und der Kleinstaaten, sowie mancher überstaatlicher Organisationen, wie des Weltgewerkschaftsbundes und anderer, waren bei der Londoner Tagung der UNO auch Vertreter kleiner und kleinster Minoritäten anwesend.

Solche Zaungäste hat jeder größere Kongreß gesehen —, ob es der Wiener Kongreß in der Zeit der napoleomschen Kämpfe, ob 'es der Berliner Kongreß 1878 oder ob es die Vorortverhandlungen von Paris nach dem ersten Weltkrieg waren. Nicht nur die großen, auch die kleinsten soziologischen Einheiten versuchten, auf diesen bedeutenden Tagungen ihre Rechte zur Anerkennung zu bringen und zu erweitern.

Dennoch mag es für viele überraschend gewesen sein, die Meldung zu lesen, daß eine Vertreterin der Wenden oder Lausitzer Sorben in London erschienen ist, um dort die nationale Anerkennung ihrer Volksgruppe zu erreichen, ja sogar die Aufnahme derselben in die UNO vorzuschlagen. Es handelt sich um Frau Dr. Marka Cyz, die Gattin des ersten Sekretärs des Lausitzer Nationalrates.

Die Minderheitenfrage in der Weimarer Republik

Es wird oft vergessen, daß die Weimarer Republik — obwohl die Grenzen von Versailles Millionen Deutscher außerhalb ließen — dennoch kein ethnisch einheitlicher Staat war. Freilich, die Zahl und Bedeutung der Minderheiten war eine geringe.

Im Norden Deutschlands lebten einige zehntausend Dänen mit dem geistigen Zentrum in Flensburg, die bis 1933 Minderheitenrechte genossen. Vor kurzsm ging eine Meldung durch die Presse, daß das südliche Schleswig, gestützt auf diese ehemalige Minderheit, den Anschluß an Nordschleswig und damit Dänemark anstrebe. Wieweit die Nachricht einer Petition von einer halben Million Menschen stimmt, kann freilich von hier aus nicht beurteilt werden —, sie darf eher bezweifelt werden.

In Ostpreußen gab es eine einen polnischen Dialekt sprechende Minorität, die sich allerdings als M a s u r e n bezeichnete und z Deutschland eine ähnliche Stellung einnahm, wie etwa die Mehrheit der Kärntner Slowenen zu Österreich. Anders dagegen die Polen Oberschlesiens, unter denen eine starke Bewegung für den Anschluß an Polen in der Zeit der Weimarer Republik bemerkbar war. Allerdings verstärkte gerade der Druck, den das Dritte Reich auf die Minderheiten innerhalb der deutschen Grenzen ausübte, diese Tendenzen. — In Ostpreußen gab es überdies südlich Tilsit und in dieser Stadt selbst eine litauische Gruppe, die freilich numerisch erst durch die Besetzung des Memelgebietes stark wurde. Sie beanspruchte das Land bis gegen Königsberg als litauisches, und stand unter der geistigen Führung des Pfarrers G a i g a 11 a t.

Die zweifellos interessanteste, wenn auch durch die Grenzziehung nicht bedeutsamste Minderheitenfrage war aber die wendische.

Die Wendeninsel im Herzen Deutschlands

Unweit der Mitte Weimar-Deutschlands, südlich Berlins, liegt eine Sprachinsel der Wenden. Die großen ethnographischen

Karten, die auch in allen österreichischen Mittelschulen auflagen, zeigten inmitten eines roten Meeres zwei meist gelbgrün schraffierte Flecken: das Siedlungsgebiet der Lausitzer Slawen Es liegt einerseits in der Niederlausitz und gruppiert sich um Cottbus und weiter nördlich bis gegen Lübben und erfaßt damit vor allem den Spreewald mit seinen dem Verkehr für die Begriffe unserer heutigen Tage eigentlich wenig erschlossenen Wäldern und Seen. Getrennt durch den deutschen Gürtel von Spremberg, liegt eine etwa ebenso große Sprachinsel in der O b e r l a u s i t z, ein Gebiet, das sich von Kamenz an der Elster im Westen und Muskau an der Neisse im Osten erstreckt und südlich bis gegen Löbau in der Richtung zur tschechoslowakischen Grenze verläuft. — Wenn man von einigen wenigen Lausitzer Sorben in der Nähe von Frankfurt an der Oder absieht, so leben in

diesen beiden Sprachinseln alle Zugehörigen zu dieser fast unbekannten Minderheit.

Das Zentrum der Wenden ist Bautzen, eine Stadt, die zwar in weit überwiegender Mehrheit von Deutschen bewohnt ist, in der aber immerhin einige Tausende ihren ZuL sammenhang mit dem Wendentum nicht verloren hatten. Bis 1933 war in Bautzen der Sitz einer Lausitzer Wenden-Organisation, die auch in Berlin einen Minderheitenvertreter hatte und über ein eigenes Presseorgan verfügte. Allwöchentlich fand in Bautzen der sogenannte Wendenmarkt statt, der wegen der malerischen Trachten für den Fremden ein interessantes Anziehungsmoment bot.

Die Geschichte der “Wenden Um 800 soll der Westslawenstamm der Wenden zwischen Saale, Bober, Havel und dem Erzgebirge seßhaft geworden sein. In den späteren Jahrhunderten wurde der Stamm von den deutschen Kaisern unterworfen und unter starken Blutverlusten auf einen immer kleineren Raum zusammengedrängt. Das Land wurde deutsch kolonisiert, die Fremdstämmigen eingedeutscht, bis schließlich nach über einem Jahrtausend eben die besprodienen zwei Inseln mit etwa 60.000 wendischen Einwohnern übrigblieben.

Das durch seine bunten und interessanten Traditen, durch seine Volkslieder und seinen Gewerbefleiß gleich bekannte Völkchen im Spreewald, bezeichnet sich selbst als Srpski und wird in der Literatur meist Sorben genannt. Der größte Teil gehört der luthera-nischen, ein Zehntel etwa der katholischen Religion an. Die sorbische Sprache ist eine Gruppe des Westslawischen. Eine eigene, wenn auch nicht sehr ansehnliche Literatur ist vorhanden, bis ins 19. Jahrhundert bestand sie allerdings nur aus kirchlichem Schrifttum. Der 1872 verstorbene Zeylef faßte dieses in einem Werk zusammen. Smolef, Hornik und Muka förderten das Sorbische als Philologen. Cerny schrieb eine Literaturgeschichte der Lausitzer Wenden, und 1929 Jatzvauk eine wendische Biographie.

Die Lausitzer Wenden sind jedoch seit Jahrhunderten weder kulturell noch politisch irgendwie besonders hervorgetreten. Bis 1933 ist eine nationale Bewegung, die sich vom Deutschtum absondern wollte, nur in einem sehr beschränkten Kreis von Bautzener Intellektuellen vorhanden gewesen. Erst der Druck auf die Minderheiten in den letzten

Jahren soll auch unter den Wenden einen Gegendruck hervorgerufen haben, der, wenn man ihn auch seiner Bedeutungslosigkeit wegen kaum als Widerstandsbewegung bezeichnen kann, doch eine gewisse Kristallisation von Gegenkräften darstellte.

Die Lausitzer Wenden als politischer Faktor

Im preußisch-deutschen Kaiserreich haben die Wenden kaum eine politisd.e Rolle gespielt. Erst nach dem Zusammenbruch 1918 griff die Tschechoslowakisch'“ Republik die Lausitzer Frage auf, ernannte in Prag einen eigenen Beauftragten, schuf ein Stipendium für Lausitzer Slawen und sdinitt das Thema audi auf der Friedenskonferenz in Versailles an. Einige Minderheitenrechte wurden endlich auch gewährt; im europäische Nationalitätenkongreß waren die Sorben vertreten. Diesen Errungenschaften machte dann aber, wie bereits erwähnt, das Dritte Reich ein Ende.

Als die russische Armee im April vorigen Jahres die Neisse überschritt, verkündete Marschall Konjew seinen Soldaten, daß sie hier altes slawisches Gebiet betreten. Unter Führung von Dr. Junj Ciz schufen sich die Wenden den Lausitzer National r a t, der von den russischen Besät zungsbehörden anerkannt wurde. Sitz dieser Organisation wurde Bautzen.

Es kann heute über die Bedeutung der Bildung einer eigenen wendischen Körperschaft noch nichts vorausgesagt werden. Während aber einst das Siedlungsgebiet der Lausitzer Slawen fast im Herzen Deutschlands lag, wenn auch die tschechoslowaki che Grenze im Süden nicht weit entfernt war, kann man heute die Neiße und damit polnisch besetztes Gebiet in einem guten Tagesmarsch erreichen. In einer Zeit wie der jetzigen, in der Hunderttausende, ia Millionen von Angehörigen einer vom Staatsvolk unterschiedenen Minderheit zur Wanderung veranlaßt werden, bedeutet der deutsche Gürtel zwischen Neiße, Oder und den Spree-Wenden nicht viel. Frst die Zukunft wird zeigen, ob durch die Konstituierung des Lausitzer Nationalrates und den Versuch der politischen Zusammenfassung einer wendischen Volksgruppe eine wesentliche Umschichtung noch weiter räch dem Westen Deutschlands und noch näher an die Tore Berlins erfolgt.

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