Eine Welt, die krank macht

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Psychische Erkrankungen sind Faktum, das nun mehr an Augenmerk erhält. Strittig sind manche | Ursachen. Psychotherapeuten verweisen auf die Arbeitswelt und die Krise, die krank machen.

Die derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse bedrücken die österreichische Seele“, warnt Eva Mückstein, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP): "Die menschlichen Grundbedürfnisse nach existenzieller Sicherheit, sozialer Integration und Verwirklichungschancen bleiben ungestillt.“ Die Folge ist ein, wie die Psychotherapeutin betont, "außergewöhnlicher Anstieg bei psychischen Erkrankungen“.

Die Zahlen sind fürwahr besorgniserregend. Laut Sozialversicherung nahm im Vorjahr jeder zehnte Österreicher das Gesundheitssystem wegen einer psychischen Diagnose in Anspruch. Die Verschreibungen von Psychopharmaka sind in den letzten zwei Jahren um 17 Prozent angestiegen, die Krankenstände aufgrund psychischer Diagnosen um 22 Prozent auf jährlich 78.000. Ein Drittel der krankheitsbedingten Frühpensionierungen erfolgt aus psychischen Gründen; jeder neunte Österreicher, der seine Pension antritt, tut dies aufgrund einer psychischen Erkrankung. Laut den oft zitierten aber nicht unumstrittenen epidemiologischen Untersuchungen des deutschen Psychologen Hans-Ulrich Wittchen leiden 38,2 Prozent der Europäer unter psychischen Störungen - mehr denn je.

Angst und Sorgen lösen Krisen aus

"Angst vor der Zukunft, finanzielle Probleme, Sorgen um den Job und um den Verlust der Existenzgrundlage können Auslöser dafür sein, dass psychische Krisen entstehen oder vorhandene psychische Erkrankungen verstärkt werden“, erklärt ÖBVP-Vizepräsidentin Christa Pölzlbauer. Besonders stark betroffen von psychischen Erkrankungen seien daher Armutsgefährdete, Arbeitslose, Jugendliche ohne Zukunftsperspektive, aber auch Burnout-Gefährdete und Menschen mit psychischen Erkrankungen: "Die anhaltende und zugespitzte krisenhafte gesellschaftliche Stimmung schlägt sich gerade jenen auf die Seele, die schon davor schlechte ökonomische Bedingungen und wenig psychische Stabilität hatten.“ Die Krise könne in vielen Fällen jener Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringe, sagt die Psychotherapeutin.

Auch die Veränderungen im Wirtschaftssystem und in der Arbeitswelt schlagen sich auf die Psyche der Österreicher. Die Zunahme von Arbeitsverhältnissen, die nicht mehr durch traditionelle Arbeitsverträge geregelt sind, und von unregelmäßigen Arbeitszeiten hat ungünstige Effekte: "Wer immer kurzfristig verfügbar ist, muss Abstriche im Privat- und Sozialleben machen“, betont Jasminka Godnic-Cvar, Leiterin des Instituts für Arbeitsmedizin an der Medizinischen Universität Wien. Die Flexibilisierung, so die Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsmedizin Christine Klein, berge die Gefahr, dass Menschen mehr oder weniger freiwillig im Übermaß arbeiten. "Gerade Menschen, die von ihrem Beruf begeistert sind, aber sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, überschreiten oft die Grenze vom Engagement zur Selbstausbeutung.“ Wolfgang Dür, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Promotion Research: "Die Flexibilität der Arbeit entwertet Erfahrung und Routine, was ältere Arbeitnehmer zu spüren bekommen, und führt zur Wahrnehmung einer hohen Arbeitsplatzunsicherheit.“

Ein weiteres Charakteristikum der modernen Arbeit ist die zentrale Rolle von Kommunikation und Kommunikationstechnologie. "Durch die ständige Erreichbarkeit via Handy können die Menschen Arbeitszeit und Freizeit nicht mehr trennen“, erklärt Elsbeth Huber, Leiterin der Abteilung Arbeitsmedizin und Arbeitshygiene im Sozialministerium. Viele Menschen sind auch einfach nicht geschaffen für die Kommunikationsanforderungen im heutigen Arbeitsleben: "Man muss kommunizieren können, sonst wird man in allen Bereichen benachteiligt“, weiß Dür.

"Die Erhöhung der Produktivität hat zu einer starken Intensivierung der Arbeit geführt“, analysiert der Soziologe: "Durch zu hohe Arbeitsbelastungen, Termin- und Qualitätsdruck steigen die Klagen der Mitarbeiter über die Qualität des Arbeitsplatzes, der eigenen Arbeit sowie den Sinn der Arbeit.“ Die Anzahl derer, die ihrer Arbeit ohne jegliches Engagement nachgehen, also Dienst nach Vorschrift machen, beträgt 57 Prozent. 15 Prozent sind bereits in die "innere Kündigung“ abgetaucht. Nur 23 Prozent sind so motiviert und Leistungsbereit, wie es sich ein Arbeitgeber erwarten darf.

Lohn passt nicht mehr zur Leistung

Eine zusätzliche psychische Belastung für Arbeitnehmer sei die schlechter werdende Entlohnung, sagt Dür: "Das Gehalt ist die stärkste Form, mit der Mitarbeitern Wertschätzung vermittelt wird. Immer weniger Menschen empfinden ihren Lohn als korrekt und gerecht.“ Die Gehälter des untersten Einkommensviertels haben seit 2000 durchschnittlich zwölf Prozent an Kaufkraft verloren. Die Kaufkraft mittlerer Einkommen stieg zwar um fünf Prozent, doch das Bruttoinlandsprodukt wuchs zugleich um 16 Prozent. Bei vielen keimt das frustrierende Gefühl, zu kurz zu kommen.

Der Psychotherapeutenverband hat sich mit Vorschlägen zu Wort gemeldet, um den Folgen dieser Entwicklungen, nämlich der rasanten Zunahme psychischer Erkrankungen, Einhalt zu gebieten. Zum einen fordert der ÖBVP die Etablierung von betrieblicher Gesundheitsvorsorge und betrieblichem Gesundheitsmanagement - Werkzeuge, die nachweislich das Betriebsklima verbessern und zu einer Senkung der Krankenstände, einer Erhöhung der Mitarbeitermotivation sowie der Produktqualität führen. Zum anderen wollen die Psychotherapeuten eine frühe Erkennung und rechtzeitige Behandlung psychischer Erkrankungen forcieren. "Besser früh, ambulant und kostengünstig, als spät, stationär und teuer“, bekräftigt Eva Mückstein.

Therapie oder Psychopharmaka?

Zu diesem Zweck fordert sie die "flächendeckende Finanzierung“ der psychotherapeutischen Behandlung. Derzeit nämlich werden von den jährlich 900.000 psychisch erkrankenden Österreichern lediglich 65.000 im Rahmen einer Psychotherapie behandelt. Glaubt man den Experten, so ist das bei Weitem zu wenig. "Die psychotherapeutische Versorgung muss unbedingt ausgebaut werden“, ist auch Karl Dantendorfer, Psychiatriekoordinator für das Burgenland, überzeugt: "Oft ist Psychotherapie allein sinnvoller als Psychopharmaka“, betont der Psychiater. Für Psychopharmaka gaben die Krankenkassen im Jahr 2009 rund 250 Millionen Euro aus, für Psychotherapie und psychotherapeutische Medizin hingegen nur 63 Millionen Euro.

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