"Heute bist es du!"

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Auf ein Wort

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Auf ein Wort

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"Im Advent bin ich immer katholisch", schreibt Rilke. Und vom Präsidenten des Moskauer Schriftstellerverbandes stammt der Satz: "Zu Ostern sind alle Russen orthodox."

Noch immer strahlt der Zauber hoher kirchlicher Feste weit über das kleiner gewordene Biotop des gläubigen Volks hinaus, trotz aller "Verdunstung des Religiösen". Es ist, als ob sich der Himmel an festlichen Tagen besonders stark zur Erde herniederneigte. Die Erfahrung sagt: "Heilige Zeiten" bündeln unsere Erwartungen und Sehnsüchte.

Da wird die uralte Kraft der Formen, Bräuche und Rituale wieder spürbar. Da wächst das Bedürfnis, die bestehenden sozialen und religiösen Defizite auszugleichen. Zumindest für kurze Zeit. Da geht es - zumindest unterschwellig - immer auch um Existenzielles.

Wahre Feste sind stets Ausnahmen

Vielleicht erahnen wir in diesen Tagen vor Weihnachten (die leider keine dunklen, erwartungsvollen Tage mehr sind) auch mehr als sonst etwas vom drohenden Verlust: Im Trubel permanenter "Festln" und "Feten" könnten wir eines Tages ganz und gar "fest-unfähig" werden. Erstickt unter der Illusion, zu einem Fest sei nicht so sehr der Anlass vonnöten als vielmehr freie Zeit und eine gutbestückte Brieftasche. Wahre Feste aber sind Unterbrechung, sind Aussetzung des Alltags. Sind immer Ausnahmezeiten.

Noch etwas Wesentliches bringen gerade Weihnachten und Jahreswende auf den Punkt: Freiwillig verzichten wir in diesen Tagen auf unsere sonst so leidenschaftlich erkämpfte Autonomie; suchen wieder nach dem Du, nach dem Wir. Und sehnen uns - versteckt hinter allen Glückwünschen und Glückssymbolen - nach künftigem Segen. Nach Göttlichem.

In dieser "heiligen Zeit", in der unsere inneren Pforten einen Spalt weiter offen sind als gewöhnlich, ist wohl auch die Weitergabe einer persönlichen Erfahrung auf dem Berg Athos - dem Hl. Berg der Ostkirche - erlaubt, die erst wenige Wochen zurückliegt. Und die sich vielleicht sogar einen Platz in unseren Weihnachtsgedanken verdient:

Da war eine südliche Sternennacht, ein Klosterbalkon - und neben mir einer meiner Mönchsfreunde. Es ging um unsere Mühe, als "Kinder dieser Welt" dem Göttlichen irgendwie näherzukommen. Den Trennungsgraben zwischen "ihm" und uns zu überwinden.

Das Göttliche im Anderen

Viele Jahre guter Nachtgespräche haben unseren Dialog längst vertraut gemacht - und meine Fragen an den Mönchsfreund kühner: "Tausende Stunden Deines Klosterlebens versuchst du, dich Gott zu nähern - im Gebet, in der Arbeit und auch im Schweigen. Sag mir bitte: Wo findest du ihn? Wo und wie siehst du, hörst und spürst du ihn?" Seine Antwort kam zögernd - und sie hat mich in ihrer Schlichtheit, Klarheit und Kürze umgeworfen. Er sagte: "Heute in Dir, mein Freund. Heute bist es Du!"

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit für Christen. Und doch die berührendste und wohl auch forderndste aller Weihnachtsbotschaften: das Göttliche zunächst im Du zu entdecken. In jedem, der uns gegenübersteht.

"Heute bist es du!" Nur ein kurzer Satz, in die Sternennacht des Athos hineingesprochen. Und doch ist ein Licht aufgegangen.

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