Logik der Rechtfertigung

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Zeugniszeit ist. Zeit des schulischen Urteils über die Lernleistung des Sprößlings. Der Index familiären Unfriedens steigt mit dem steigenden Noten-Index. Sorgenfalten auf väterlichen Stirnen vertiefen sich, indes auf Geduld und Versöhnung bedachte Mütter die Tränensäcke bereithalten.

Schlaue Politiker und Jungtürken in den Parteiorganisationen plädieren zu dieser Zeit gerne für die Abschaffung der Schulnoten, weil es ja wirklich nicht sein kann, daß nackte Zahlen den Geisteszuwachs eines Menschen ausdrücken.

Die Frau Unterrichtsministerin wird ihre Psychologen an die Front schicken, um größere Katastrophen zu verhindern. Und bei "Autofahrer unterwegs" steigen die Suchmeldungen nach ausgerissenen Schülern. Die archaischen Zeiten, in denen eine schlechte Note und der auf sie folgende Tadel schweigend entgegengenommen wurde, sind längst vorbei. Ein halbwegs vifer Schüler weiß heutzutage über Entwicklungspsychologie bis Genforschung gut Bescheid.

An der schlechten Note ist in erster Linie selbstverständlich ein schlechter Lehrer schuld. Der Beurteilungsbogen wird es schon noch an den Tag bringen. Aber auch die elterlichen Gene, die einen üblen Intelligenzquotienten vererbt haben, sind ein treffendes Argument.

In der Verteidigungsposition zum Angriff übergehend lernt der Schüler heutzutage viel fürs Leben, in dem bekanntlich an allen Mißlichkeiten grundsätzlich die anderen schuld sind. Wehe dem erzürnten Elternteil, der wissenschaftlich nicht ganz auf der Höhe ist! Es empfiehlt sich in diesem Zusammenhang eine eingehende Information über Entwicklungen in der zeitgenössischen Theologie. Denn man sollte gar nicht glauben, welche alltäglich-praktischen Konsequenzen zum Beispiel ein über drei Jahrhunderte alter Streit über die sogenannte Rechtfertigungslehre hat. Katholiken und Evangelische haben sich da bis zu kompliziertesten Abstraktionen in gegensätzliche Standpunkte verbissen, die jetzt endlich mit einer "Gemeinsamen Erklärung" ausgeräumt werden sollen.

Dabei ist das so einfach, daß es jedem Schüler zur Zeugnis-Argumentation dienen kann. Luther, einst unter dem Eindruck von Ablaßhandel und anderen Kirchengeschäften empört, meinte : Der Mensch kann tun was er will, es hilft ihm vor Gott gar nichts, einzig der rechte Glaube und die Gnade können ihn vor dem Gericht Gottes rechtfertigen. Die katholische Theologie sah das Problem eher praktisch-irdisch und meint, daß der Himmel durch gute Werke verdient sein will, die dann Gott gnadenvoll helfend ergänzt. Der Mensch muß also schon einiges dazutun zu seinem Heil. Klingt einigermaßen logisch, auch wenn es hier vielleicht etwas vereinfacht dargestellt ist.

Die Verteidigungslinie des schlechten Schülers ist lutherisch. Er konnte lernen was er will, der Lehrerteufel hat ihn nicht aufkommen lassen - und die Gnade des späteren Lebens wird ja zeigen, was er noch werden und verdienen wird. Die Noten der Eltern wollen ja auch nicht so hervorragend gewesen sein - und der Glaube hat ihnen geholfen.

"Die Gnade setzt die Natur voraus!", doziert hierauf der gebildete Vater auf katholisch. "Du kannst nicht einfach nur auf den lieben Gott hoffen, sondern du mußt selbst lernen und leisten. Erst was dir dann noch fehlt gibt dir Gott dazu !"

Kapiert? So einfach ist das mit der Rechtfertigungslehre. Hoffentlich hat das der progressive Religionslehrer auch durchgenommen. Das würde die Stellung der Eltern erleichtern.

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