Und heute ein bisschen das Leben ändern

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So mancher Neujahrsvorsatz ist schon wieder vergessen. Doch warum sollten wir überhaupt alte Gewohnheiten ablegen oder neue einüben? Über Clemens Sedmaks Philosophie der kleinen Schritte.

"This ist the first day of the rest of your life“, stößt Walter White hervor und klemmt das Gesicht seines Assistenten Jesse Pinkman zwischen die Hände. Wobei es dem Chemielehrer White nicht darum geht, seinen ehemaligen Schüler zu einer geregelteren Lebensführung zu bewegen. Ganz im Gegenteil: Der 50-jährige, terminal Lungenkrebskranke will ihn vielmehr dazu bringen, an seiner Seite in das große Geschäft um Chrystal Meth einzusteigen. White selbst hat nichts mehr zu verlieren oder zu gewinnen, aber das viele Geld soll seiner schwangeren Frau, seinem Sohn - und auch Jesse Pinkman - das finanzielle Auslangen sichern.

Dass Menschen im Angesicht des Todes ihr Leben radikal überdenken und mit alten Gewohnheiten brechen, ist verständlich. Dass sie - wie Walter White in der preisgekrönten US-Fernsehserie "Breaking Bad“ - zur Vorsorge ihrer Familie kriminell werden, ist eher die Ausnahme. Was diese Geschichte mit der Erfahrung vieler Menschen verbindet, ist freilich, dass es zur Veränderung eingeübter Gewohnheiten einen Grund braucht. Und was wäre ein besserer Anlass als der nahe Tod?

Rückgrat des Alltags

Vielen reicht schon ein neues Jahr, um ihr Leben zu ändern - zumindest nehmen sie es sich vor. Mehr Sport! Gesünder essen! Weniger Stress! Doch spätestens jetzt, Mitte Jänner, sind nicht wenige dieser Vorsätze schon wieder ad acta gelegt. Warum ist es so schwierig, mit täglichen Routinen und Ritualen zu brechen, auch wenn wir wissen, dass sie uns schaden? Weil sie uns zu einer zweiten Haut geworden sind, ist Clemens Sedmak überzeugt. Der umtriebige Philosoph und Dreifach-Doktor, der am Londoner King’s College eine Professur innehat und zudem das Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg leitet, hat in seinem jüngsten Buch "Jeder Tag hat viele Leben“ die ambivalente Doppelrolle von Gewohnheiten für unser Leben kenntnisreich analysiert: Einerseits schützen Gewohnheiten vor Überraschungen, sie sind "das Rückgrat von Alltag“, der wiederum die Grundlage für ein ruhiges Leben mit einem Gefühl von Sicherheit ist. ("Alltagsschwund“ führt zu kollektivem Stress und zum Niedergang von Normalität - zu beobachten etwa in den besetzten palästinensischen Gebieten, wo es durch Willkürakte wie Stromabschaltungen oder nächtliche Kontrollen zu einer Erosion des Alltags kommt.) Andererseits hindern Gewohnheiten uns aber auch daran, Neues zu entdecken und selbst zu wachsen.

Sedmaks eigener Anstoß, um eine Lebensveränderung zu ringen, war ein zufällig entdeckter Brief. Als damals 20-Jähriger hatte er ihn an sich selbst geschrieben. "Wo stehst Du im Leben?“, heißt es darin. "Bist Du beruflich und privat fest verankert? Ich würde schon hoffen, dass Du ein Studium abgeschlossen und einen Beruf gefunden hast, es würde mich freuen, wenn Du Familie hast. Hast Du einen Alltag? Wie sieht er aus? Welche Gewohnheiten hast Du Dir angeeignet, was ist Dir, um mit Aristoteles zu sprechen, zur zweiten Natur geworden?“ Und schließlich die alles entscheidende Frage: "Lebst Du ein integres Leben?“

Angelpunkte und Regelmäßigkeit

Ein aufwühlender Brief: Was war aus seinen Idealen geworden? Würde es ihm noch gelingen, die Weichen jetzt, mit 42 Jahren, anders zu stellen? "Du sollst dein Leben ändern“: Dieser Satz kann schließlich rasch überfordern und selbst zu Sinn- oder Glücksstress führen. Hilfreich ist hingegen eine "Philosophie der kleinen Schritte“, wie Clemens Sedmak betont. Nachhaltige Gewohnheitsveränderungen folgen dem Grundsatz "weniger ist mehr“, sie erfordern aber Überlegungen über den richtigen "Angelpunkt“, brauchen Regelmäßigkeit und haben auch ihren Preis - den Preis der Anstrengung und jenen, anderes aufgeben zu müssen. Irgendwann kommt zudem die "Stunde der Versuchung“, doch am Ende kann schon eine einzige neue Gewohnheit vieles im Leben in Bewegung bringen - wie in einem Dominospiel, in dem ein einzelner Stein umgestoßen wird.

Auf welche Weise eine solche Veränderung gelingen kann, hat Clemens Sedmak mit Hilfe eines Experiments zu eruieren versucht: Zwölf Menschen wurden von ihm gebeten, einen Monat lang jeden Tag konsequent an der Veränderung einer einzigen Gewohnheit zu arbeiten. Da war etwa Christoph, der sich darum bemühte, nach dem Vorbild des englischen Journalisten Leo Hickman sein Wegwerfverhalten zu ändern. Hickman hatte drei Konsum- und Umweltschutzexperten zu sich nach Hause eingeladen, um Mülltonne, Badezimmerschrank und Kühlschrank zu durchforsten. Solcherart sensibilisiert änderte Hickman nicht nur seine Wegwerf-, sondern auch seine Verpflegungs-, Transport-, Lese- und Gesprächsgewohnheiten. Ein Dominoeffekt, den auch sein Nachahmer Christoph feststellte.

Edith nahm sich einen anderen Angelpunkt vor: Sie beschloss, einen Monat lang täglich Tagebuch zu führen. Die neue Gewohnheit wurde zu einer Art Ruhe-Insel in ihrem gestressten Alltag - auch wenn sie es nicht immer schaffte, sich diese Auszeit zu nehmen.

Martha wiederum, Mutter von zwei neun und zwölf Jahre alten Söhnen, hatte sich vorgenommen, ihre Buben nach "Blödsinnssituationen“ nicht mehr anzubrüllen und zu beschimpfen. Motiviert hatte sie eine Selbstverletzung ihres Zwölfjährigen. Durch das Studium der Bücher des Familientherapeuten Jesper Juul war ihr bewusst geworden, dass sie die Verantwortung für die Atmosphäre in der Familie übernehmen und statt des Brüllens eine "persönliche Sprache“ mit Ich-Botschaften finden müsse. Im Laufe des Experiments fand sich Martha immer wieder in schwierigen Situationen, doch am Ende entdeckte sie, dass die Wut "an Macht verloren“ habe.

Cornelia schließlich, Mutter von sieben Kindern, wollte das Loslassen und Entrümpeln einüben. Alles, was sie zwei Jahre lang nicht in der Hand gehabt hatte, sollte entsorgt werden. Doch bald zeigten sich Schwierigkeiten: Sollte dies auch für Bücher, Reiseerinnerungen, Schulhefte oder letzte Schnuller gelten? Das Dogma wurde aufgeweicht, doch der kritische Blick auf das Überflüssige und die eigene Konsumneigung blieb.

Routinen der Liebe

"Ein Leben ohne Gewohnheiten wird nicht paradiesisch sein“, schreibt Clemens Sedmak, "ein Leben, das nur von Gewohnheiten bestimmt ist, allerdings auch nicht“. Ordnung muss sein, aber sie muss auch einen Aspekt des Offenen, des Möglichen, des Geheimnisvollen aufweisen. Das gilt auch und besonders für die Liebe, mit welcher der Philosoph und Theologe sein erhellendes Buch beschließt. Gewohnheiten bieten hier Halt und Stütze, sie sind andererseits aber auch Eingangsort für Langeweile und Affären. Liebe, die nicht zur Routine verkommen ist, sei folglich die "Fähigkeit und die Bereitschaft, einen Menschen freudig und wachstumsfördernd zu überraschen“.

Kein leichtes Vorhaben. Walter White hätte eine solche, terminale Lebensänderung vermutlich trotzdem besser getan als die Umgewöhnung vom Chemieprofessor zum Drogenfabrikanten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jeder Tag hat viele Leben

Die Philosophie der kleinen Schritte Von Clemens Sedmak. Verlag Ecowin 2014. 25 Seiten, geb., e 19,95

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