Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag  - Labor für Weltjustiz: Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag sieht aus wie ein riesiger Rubik-Würfel. Auch die Verhandlungen im Gericht lassen sich mit kniffligen Drehpuzzles vergleichen. - © Wolfgang Machreich

Den Haager Gerichtepuzzle für weltweite Gerechtigkeit

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Straßenbahnfahrt durch Den Haag, von einem Internationalen Gerichtshof zum anderen. An jeder Haltestelle zeigen sich Ausblicke auf das Ziel Weltgerichtsbarkeit. Eine Reportage.

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Straßenbahnfahrt durch Den Haag, von einem Internationalen Gerichtshof zum anderen. An jeder Haltestelle zeigen sich Ausblicke auf das Ziel Weltgerichtsbarkeit. Eine Reportage.

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Die Straßenbahnlinie 1 fährt in die Haltestelle „Vredespaleis“ ein. Es ist Freitag, 12. Jänner 2024, acht Uhr in der Früh. Eine Gruppe Fahrgäste mit Palästina- Flaggen an langen Stöcken steigt aus. Auf dem Platz vor dem Friedenspalast in Den Haag hängen andere Demonstranten Banner mit der Aufschrift „Gerechtigkeit für Palästina“ an die Absperrzäune, verteilen Lautsprecher und bauen eine Videoleinwand auf. Berittene Polizei lässt ihre Pferde vor dem Eingang zum Sitz des Internationalen Gerichtshofs tänzeln. Um zehn Uhr wird IGH-Präsidentin Jean E. Donoghue den zweiten Tag der Anhörung im Gefolge der Klage Südafrikas gegen Israel mit dem Vorwurf des Völkermords im Gazastreifen eröffnen. In der Morgendämmerung und erhellt von Kristalllustern, die hinter den Fenstern in den Arkadenbögen leuchten, sieht der „Friedenspalast“ wie ein Märchenschloss aus.

Das Versprechen, das mit dem Weltgericht an dieser Adresse einhergeht, klingt auch märchenhaft schön: Anstatt mit Waffengewalt und Krieg, auch wenn dieser „Spezialoperation“ genannt wird, sollten Staaten ihre Territorialstreitigkeiten oder völkerrechtlichen Klagen vor dieses höchste Rechtsorgan der UNO bringen und – eingehegt in juristischen Bahnen – auf friedlichem Weg lösen.

Vorbilder Mandela und Gandhi

Man stelle sich vor, Russland hätte den IGH angerufen, anstatt die Krim zu okkupieren und in die Ukraine einzumarschieren; oder Aserbaidschan hätte im Streit um Bergkarabach auf den Spruch der 15 Richterinnen und Richter anstatt auf die Feuerkraft seiner Armee gesetzt. Utopie oder Vision? Im IGH hat man sich für Letzteres entschieden. Das zeigen die im Korridor zum Verhandlungssaal aufgestellten Büsten von Nelson Mandela und Mahatma Gandhi. Ums Eck steht eine Vitrine mit Ziertellern. Ein Teller feiert den Frieden von Versailles zur Beendigung des Ersten Weltkriegs. Dass damit das zwischenstaatliche Porzellan in Europa nicht gekittet wurde, zeigen die auf Versailles und die anderen Pariser Vorortverträge folgenden Verwerfungen – bis zum Zweiten Weltkrieg. Eine Warnung, dass Siegerjustiz letztlich wieder zu viele Verlierer für einen dauerhaften Frieden produziert.

„Hättiwari“ sagt man in Österreich zu verpassten Gelegenheiten. It takes two to tango, heißt es im englischen Sprachraum, wenn es darum geht, dass sich beide Seiten mit Gespür für das Gegenüber bewegen müssen, um – egal ob beim Tango oder auf dem politischen und diplomatischen Parkett – in Gleichtakt zu kommen. US-Präsident Ronald Reagan hat mit dieser Tangometapher 1982 die Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion beschrieben. Doch an diesem Verhandlungsvormittag wird im ehrwürdigen Friedenspalast nicht Tango getanzt. Israel legt Beweise vor, die sein Recht auf Selbstverteidigung belegen – und verteidigt sich gegen den Vorwurf des Völkermords mit einer akribischen Exegese der Genozid-Konvention.

Die Anhörung ist historisch, markiert eine Marke auf dem Weg zur Etablierung einer Weltgerichtsbarkeit. Untersuchungen über die Wirksamkeit des Gerichts zeigen, dass die meisten Urteile des IGH befolgt werden, auch wenn der Gerichtshof auf keinen schlagkräftigen Mechanismus zur Durchsetzung seiner Entscheidungen zurückgreifen kann. Entscheidend dafür ist, dass jeder IGH-Spruch imstande ist, weltweit politischen und medialen Druck aufzubauen.

Gaza-Position der Mitte

Zwei Wochen nach der Anhörung im Den Haager „Vredespaleis“, am Freitag vorige Woche um 14 Uhr, verkündete Gerichtspräsidentin Donoghue die Eilentscheidung des IGH. Wichtig für Israel: Es wird nicht zu einer sofortigen Waffenruhe im Gazastreifen verpflichtet. Zentral für Südafrika: Israel wird aufgefordert, alle Maßnahmen zu ergreifen, um Taten des Völkermords zu verhindern. Die Entscheidung des Gerichts lässt sich als Versuch interpretieren, die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen, ohne Israels Recht auf Selbstverteidigung einzuschränken. Eine Position der Mitte, die, so die Hoffnung, die Gemäßigten auf beiden Seite stärkt. Oder wie Mohammad Al-Liftawi, ein Händler aus der Altstadt von Jerusalem, in einem Korrespondentenbericht den IGH-Spruch kommentierte: „Ich wünsche mir, dass sich durch die zukünftige Überwachung des Gerichts die Lage langsam wieder beruhigt.“

„Der Friedenspalast in Den Haag sieht aus wie ein Märchenschloss. Das Versprechen, das mit dem Weltgericht an der Adresse einhergeht, klingt auch märchenhaft schön.“

Steigt man an der Haltestelle „Vredespaleis“ wieder in die Straßenbahnlinie 1 stadtauswärts ein, kommt man zwei Stationen weiter an der Johan de Wittlaan vorbei. Ein Gebäude ragt wie der Bug eines Ozeandampfers in die Straße hinein. Zwischen 1993 und 2017 war hier der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien angesiedelt. 1999 erließ das Jugoslawientribunal erstmals einen internationalen Haftbefehl gegen einen amtierenden Regierungschef. Slobodan Milošević wurde der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. 2002 begann die Verhandlung mit ihm als Angeklagtem und Verteidiger in eigener Sache zugleich. Die weitere Route der Straßenbahn 1 in Richtung Nordseestrand folgt dem Weg, den Milošević jeden Verhandlungstag bis zu seinem Tod 2006 zwischen dem UN-Gefängnis in Scheveningen und dem Tribunal hin- und hergefahren ist.

Von Milošević zu Thaçi

Wer an der Endstation der 1er-Linie am Noorderstrand in die 9er-Straßenbahn umsteigt, fährt auf einer anderen Strecke wieder in die Stadt hinein und in die Zeit der Jugoslawienkriege zurück. Vis-à-vis der Haltestelle Riouw-Straat befindet sich die „Kosovo Specialist Chamber“. Einer der Angeklagten dieses Sondergerichts ist Hashim Thaçi, früherer Ministerpräsident und Präsident des Kosovo. Als Mitbegründer und Führer der paramilitärischen UÇK soll er während des Kosovokrieges 1999 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.

Eine Anklage, die auch gegen Alfred Yekatom vorgebracht wird. Der Fall des zentral-afrikanischen Ex-Milizenchefs wird am Internationalen Strafgerichtshof (IstGH) verhandelt, zehn Minuten Busfahrt mit der Linie 20 vom Kosovo-Gericht entfernt. Dieses Gerichtsgebäude sieht aus wie ein riesiger Rubik-Würfel. Auch die Verhandlungen im Gericht lassen sich mit einem Drehpuzzle vergleichen. In jahrelangen minutiösen Recherchen, hunderten Zeugeneinvernahmen und Verhandlungstagen versuchen Richter, Anklage und Verteidigung, Befehlsketten nachzuforschen, ein stimmiges Bild der strafrechtlich relevanten Ereignisse herzustellen und darauf ein Urteil zu begründen.

An diesem Verhandlungstag bedankt sich der Vorsitz-führende Richter Bertram Schmitt bei einer Zeugin für ihre Schilderung, die ein wichtiges Puzzleteil für die Wahrheitsfindung liefert. Ein anderes Mal fragte Richter Schmitt ein Opfer von Kriegsverbrechen, was sie sich von diesem Gericht erwarte. Ihre Antwort fasst das Ziel der internationalen Gerichtsbarkeit in zwei Wörtern zusammen: „Etwas Gerechtigkeit.“

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