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Die tausendfache Vielfalt

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In der Stille und äußeren Schlichtheit eines solchen Daseins entwickelte sich Bentley zu einem ernstzunehmenden Naturwissenschaftler von eigenen Gnaden, dem durch konsequentes Selbststudium die allgemeinen physikalischen Grundlagen seines speziellen Forschungsgebietes durchaus vertraut waren. An Hand seiner Aufnahmen konnte er beweisen, daß wohl allen Schneekristallen die Form des Hexa-gons eigen ist, daß aber kaum zwei unter Tausenden, ja sogar Millionen, in allen Einzelheiten ihres Aufbaus völlig übereinstimmen! Er erarbeitete gewissermaßen eine Anatomie und Physiologie der Schneekristalle und schrieb in späteren Jahren in einem Aufsatz „Marvel of the Snow Gems“ (Wunder der Schneegebilde) folgendes über seine Entdeckungen im Reich der winterlichen Mikrokosmen:

„Welche Magie liegt in der Zahl Sechs, daß sie die Schneekristalle ihrer unbedingten Gesetzmäßigkeit unterwirft? Hier eröffnet sich ein von glitzernden Gebilden erfüllter Bereich der Natur, der allen Reiz des Geheimnisvollen, des Unbekannten besitzt und dem Forscher für seine Bemühungen so herrlichen Lohn bietet. Seit mehr als einem Viertel Jahrhundert befasse ich mich mit Schneekristallen, und diese Beschäftigung ist überaus faszinierend, denn jeder günstige Schneefall während all dieser Jahre hat mir Neues und Schönes beschert. Es ist mir gelungen, sechzehnhundert Mikroaufnahmen von Schneekristallen zu machen. Zweifellos ist durch diese Bilder ein gewisser Überblick über fast alle Typen und Spielarten gegeben, aber sie zeigen kaum einen winzigen Bruchteil des individuellen Formenreichtums und der inneren Strukturverschiedenheiten unter den zahllosen Myriaden von Kristallen jedes Grundtyps.“

„Man hat sich häufig über die erstaunliche Vielgestaltigkeit und Schönheit der Schneekristalle Gedanken gemacht. Sie bilden sich in einem sehr dünnen gasförmigen Medium, nämlich der Luft, und dadurch ist für die Wassermoleküle eine einzigartige Bewegungsfreiheit während des Kristallisationsprozesses gegeben. Diese Tatsache erklärt sicherlich auch, weshalb die Schneekristalle alle anderen Kristallformen an Symmetrie übertreffen.“

Sachkundig geht Bentley in dieser Abhandlung ins Detail: „Die meisten Schneekristalle sind natürlich rudimentär, besonders bei starkem, dichtem Schneegestöber, was vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die Schneeflocken während des Entwicklungsstadiums miteinander verschmelzen oder infolge starken Windes auseinandergerissen werden ... In der Regel stammen die rascher wachsenden, stark verästelten Formen aus Wolken in geringer Höhe und relativ wärmerer Luftschicht, während die fester geschlossenen, blättchenartigen Kristalle aus Schneewolken in mittleren und höheren Lagen und daher aus kälteren Luftschichten kommen. Doch manchmal fallen auch aus einem scheinbar wolkenlosen Himmel Schneeflocken, die nur geringe oder keinerlei Abweichungen von jenen Kristallen zeigen, die ich während Schneestürmen photographieren konnte.“ Und er schließt mit den optimistischen Worten: „Es hat in der Tat den Anschein, daß diesen wunderbaren kleinen Gebilden reinster Schönheit, die vom Himmel fallen, bald jene volle Würdigung und Erforschung zuteil werden wird,die ihrem außerordentlichen Reiz und ihrer großen wissenschaftlichen Bedeutung gemäß ist.“

1898, mit dreiunddreißig Jahren, zog Bentley schließlich die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf sich. Professor G. H. Perkins von der University of Vermont war der erste, der durch einen Aufsatz in einer Fachzeitschrift den Namen Wilson A. Bentley bekannt machte und Reproduktionen von Mikrophotographien des Farmers aus Vermont veröffentlichte. Amerika staunte über den „Snowflake Man“, der da oben im Nordosten Winter für Winter aus eigenem Antrieb und ohne materiellen Gewinn fast tagtäglich Stunden in einem ungeheizten Schuppen verbrachte, um das bleibende Abbild des so rasch vergänglichen Schneekristalls zu schaffen. Eine meteorologische Publikation, die „Monthly Weather Review“, bat Bentley um regelmäßige Beiträge, und 1907 erschien sein erstes Buch „Woter Wonders“, das Photos von Schneekristallen, aber auch von seltsam geformten und strukturierten Vereisungen enthält.

„Water Wonders“ war ein Standardwerk seiner Art, Bentleys Bilder wurden in der Folge in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften publiziert, und die alte Farm im Hügelland bei Jericho war das Reiseziel vieler Wissenschaftler, die mit dem Urheber dieser ungewöhnlichen Dokumentationen persönlich über sein Studiengebiet diskutieren wollten. Mit den Wissenschaftlern kamen auch Künstler und Kunsthandwerker, denen die rein ästhetische, ornamentale Wirkung und phantastische Formenvielfalt der sechs-strahligen Sterne neue Anregungen bot. Bentley selbst meinte dazu: „Gold- und Silberschmiede und Tapetenfabrikanten beginnen die künstlerische Bedeutung der Schneekristalle zu erkennen, deren Formen sich wohl ebensogut auch für Musterentwürfe für Porzellan, Glas und viele andere Materialien eignen.“

Als reifer Mann wurde Bentley durch die Aufnahme in die American Association for the Advancement of Science geehrt. Immer wieder machte er sich auf den Weg, um in amerikanischen Schulen und sogar an Universitäten Vorträge zu halten. Die angebotenen großzügigen Honorare lehnte er ab und ließ sich lediglich seine Reisespesen ersetzen. Er verfaßte die Artikel für die Stichworte „Snow“ und „Frost“ in der Encyclopaedia Americana, lieferte Beiträge für mehrere Jahrgänge des American Annual of Photography, und hätte Reisen nach Europa unternehmen können, um in wissenschaftlichen Vereinigungen über die Ergebnisse seiner Forschungen zu berichten. Doch er konnte sich nie dazu entschließen und blieb weiterhin auf der heimatlichen Farm, sommers in Flanellhemd und verblichenen Zwilchhosen auf den Feldern und winters in seiner Holzhütte und in der Dunkelkammer, wie eh und je. Ein äußerlich völlig ereignisloses Leben, dafür erfüllt von allen Freuden des Entdeckers einer nach geheimnisvollen Gesetzen aufgebauten, dem normalen menschlichen Auge verborgenen Welt. „Für Bentley ist jedes neue Schneekristall wie ein neuer Planet“, sagte einer seiner Freunde. Eine stille Sehnsucht bestimmte sein Tun: Er hoffte, dereinst als Summe und Krönung seiner Arbeit eine große Auswahl von Mikrophotographien — es waren bereits an die sechstausend! — in Buchform veröffentlichen zu können. Und es mag wie eine wundersame Fügung erscheinen, daß gerade im Februar 1928, zu Bentleys dreiundsechzigstem Geburtstag, in Vermont außerordentlich viel Schnee fiel. An einem Tag betrug die photographische Ausbeute die vordem noch nie erreichte Zahl von über hundert Schneekristallen, was Bentley zu dem Ausruf veranlaßte: „Das Geburtstagsgeschenk des lieben Winters!“

Drei Jahre später, im Herbst 1931, ging sein großer Wimsch schließlich in Erfüllung. Per Post kamen die ersten Exemplare seines Buches „Snow Crystals“. Die American Meteorological Society hatte durch eme Subvention die Drucklegung ermöglicht. Der Band enthält zweitausend Photos von Schneekristallen und Eisblumen. Bentley, der die Gestaltung und Redaktion des Buches vertrauensvoll seinem alten Freund, dem Meteorologen William A. Hum-phreys, überlassen hatte, war von dem Ergebnis durchaus befriedigt. Doch für ihn gab es kein Ausruhen auf wohlverdienten Lorbeeren. Kaum fiel der erste Schnee, arbeitete der wetterharte Sechziger schon in seinem frostigen Holzhaus. Aber vor Weihnachten zwang ihn eine bedenkliche Erkältung, seine Tätigkeit zu unterbrechen. Am 23. Dezember 1931 starb Bentley. Über den grünen Bergen von Vermont lag eine weiße Schneedecke, und es schneite ohne Unterlaß in dichten Flocken weiter

“ -Vor -feiger Zeitersch^ri^das'Buch“,]Snoür Crystals“ in erweiterter Neuauflage, denn die Nachfrage in Fachkreisen war groß, es gibt keine meteorologische und geophysikalische Anstalt oder Institution, die nicht durch Bentleys Lebenswerk wertvolle fundamentale Ansatzpunkte für weitere Forschungen auf dem Gebiet der Schneekristalle hätte. Namentlich an der Hokkaido-Universität in Japan wurde bereits während der dreißiger Jahre die von Bentley eingeleitete wissenschaftliche Dokumentationsarbeit fortgesetzt.

An der Stadtgrenze von Jericho im Staate Vermont steht schon seit langem eine Tafel mit der Inschrift: „Im Verlauf von fünfzig Jahren entwickelte Wilson A. Bentley, ein einfacher Farmer, seine Technik der Mikrophotographie, um der Welt die Schönheit und das Geheimnis der Schneeflocke, die Gesetzmäßigkeit ihrer sechseckigen Gestalt und die unendliche Zahl ihrer zauberhaften Formen zu offenbaren.“ Und William A. Humphreys schrieb in seinem Nachruf auf diesen Träumer und Idealisten, der zugleich ein echter Realist war, jene Worte, die in ihrer allgemeinen Gültigkeit von dem großen amerikanischen Denker Ralph Waldo Emerson stammen könnten: „Der Erfolg gehört nicht dem, der mit Hilfe anderer zu großen Reichtümern gelangte, sondern jenem, der unser Leben lebenswerter machte. In diesem höheren Sinn war Wilson Alwyn Bentley wahrhaftig ein sehr erfolgreicher Mann.“

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