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Magie der Schneekristalle

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In diesen Tagen jährt sich zum hundertstenmal der Geburtstag eines Mannes, der aus spontanem eigenem Entschluß im geistigen und menschlichen „Alleingang“ eine große Kulturtat setzte, von der freilich außer den Meteorologen diesseits des Atlantik nur wenige Menschen wissen: Wilson Alwyn Bentley, „the Snowflake Man“, wie man ihn schon zu Lebzeiten in seiner Heimat Vermont und in den ganzen USA nannte, denn die Erforschung und bildliche Dokumentation der Schneekristalle wurde ihm zur Berufung und zum Lebensinhalt.

Die Familie: Zielbewußte, fleißige echte Yankees, seit Generationen in New England ansässig, ein Vorfahr hatte als Soldat im Unabhängigkeitskrieg gefochten, ein Großonkel wurde zweimal zum Gouverneur des Staates Vermont gewählt. Der Vater bewirtschaftete eine Farm unwert der kleinen Stadt Jericho, die Mutter, Lehrerin an der lokalen Volksschule, war sehr aufgeschlossen für alle technischen Neuerungen, und daraus erklärt es sich wohl, daß 1880 ein kleines simples Mikroskop seinen Weg in das abgelegene Farm-itoWiÜh&e* „Grüne Bergen^ £md. (Pilsofl,, ar damate-, fünfzehn:,J#h$> alt. Seit seiner Kindheit hatte er reges Interesse für alle Erscheinungsformen der Natur gezeigt und besaß eine Sammlung sorgsam gepreßter verschiedener Farnkrautarten, die in der Umgebung wuchsen. An jenem Februartag des Jahres 1880 aber offenbarte sich ihm beim ersten Blick durch das neue Gerät eine bisher unbekannte, faszinierende Welt: er sah Schneekristalle in mikroskopischer Vergrößerung, sechsstrahlige Sterne, wie aus feinstem Silberdraht gesponnen, in zarten Verästelungen zusammengefügt.

Es reizte ihn, die Vielfalt dieser rasch vergänglichen Formen festzuhalten. Er ging mit dem Mikroskop ins Freie, um es jeweils entsprechend abzukühlen, und versuchte dann, die Schneekristalle zu zeichnen. Das Resultat befriedigte ihn nicht, die einzige Möglichkeit, das Bild dieser Blumen des Winters zu bannen, bot die Photographie. Bentley erwarb eine Kamera, und mit zwanzig Jahren hatte er, der in technischen Belangen geschickte und ans sparsame Improvisieren gewöhnte Sohn eines Pioniergeschlechtes, sein Verfahren entwickelt, das er dann all die Jahrzehnte seines weiteren Lebens hindurch fast unverändert beibehalten sollte: auf einem Hang, der zum Grundbesitz der Bentleys gehörte, hatte er eine Holzhütte gebaut und darin, einem großen Fenster zugewandt, seine Kamera samt dem Mikroskop aufgestellt; eine höchst primitive aber durchaus zweckmäßige Vorrichtung.

Nach meteorologischen Schätzungen bringt ein mittlerer Schneefall etwa eine Billion Schneekristalle zur Erde. Und in Vermont ist der Winter lang. So stand Bentley oft Tag für Tag immer wieder im Schneetreiben, mit einer flachen Tasse, über die er ein Stück schwarzen Samt gebreitet hatte. Kaum lagen einige Flocken darauf, nahm er vorsichtig eine davon mit einem dünnen Holzstäbchen auf, legte sie rasch auf die Glasplatte seines Mikroskops und photogra-phierte sie. Bei stärkerem Schneefall betrug seine Ausbeute etwa 50 bis 75 Kristalle. Bentleys Schränke füllten sich allmählich mit Negativplatten und Vergrößerungen. Noch ahnte niemand etwas davon, denn er betrieb seine Stadien nur aus privatem Interesse. Um sich seiner Liebhaberei soweit als nur irgend möglich widmen zu können, hatte er sich für das anspruchslose Leben eines Farmers entschieden, bebaute zusammen mit seinem Bruder die Felder des ererbten Anwesens und blieb unverheiratet.

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