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Einheit in der Vielfalt

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Einen Überblick über das Schweizer Musikschaffen der letzten beiden Dezennien erhielt man in einer Reihe von Orchester- und Kammermusikkonzerten, die anläßlidr des 50-Jahr-Jubiläums vom Schweizer Tonkünstlerverein in Zürich veranstaltet wurden. — Die zentraleuropäische Lage des Landes spiegelt sich natürlich auch in seiner Musik, die sich erst langsam und in stetem Zusammenhang mit dem Wirken des Tonkünstlervereins zu einem selbständigen und vom Ausland nahezu unabhängigen Leben hat entwickeln können. Diese nationale Unabhängigkeit drückt sich freilich nur im Raum der Interpretation aus, während das Schaffen selbst, mehr als anderswo, den nationalen Musikkulturen Europas, vor allem der französischen und deutsdien, verpflichtet war und ist. Dennoch kann man angesichts der Werke dieses Festes die von

Schweizer Seite gemachte Feststellung, gerade in dieser Vielfalt der kulturellen Zusammenhänge des Schweizer Musikschaffens drücke sich gleichzeitig eine Einheit aus, nur unterstreichen. Nicht bloß, weil diese „Einheit in der Vielfalt“ einen nationalpolitischen, durchaus eigenartigen Hintergrund besitzt, dem auch eine Art Schweizer Charakter in der zeitgenössischen Musik entspricht. Auch — und zuerst — deshalb, weil die Schweiz in Arthur Honegger und Frank Martin zwei Komponisten besitzt, die, teils mehr der welschen, teils mehr der alemannischen Schweiz zugehörig, kraft ihrer ausgeprägten Begabung aus ihrem kleinen Land sehr schnell in die europäische Kulturgemeinschaft hineingewachsen sind. Gerade Martin, dessen Oratorium „Golgotha“ in der Genfer Uraufführungsbesetzung unter Leitung von

S. Baud-Bovy eindrucksvoll erklang — das Werk wurde anläßlich seiner Aufführung in Perugia 1949 auch an dieser Stelle ausführlich gewürdigt —, ist ein außerordentlich bezeichnendes Beispiel für die Aufgabe, die die Sdiweizer Musik heute auf dem Weg zu einer politischen und wirtschaftlichen Realisierung Europas zu leisten imstande ist. Die Erneuerung von Debussys Impressionismus mit Hilfe eines polyphon durchsetzten Architektonik, und dies auf der Grundlage einer neuen Bewußtwerdung abendländischer Kulturverpflichtung: die Musik konnte keinen überzeugenderen Beitrag in dieser Zeit leisten als diesen. Neben Honegger, der vom Zürcher Stadttheater mit der im ganzen gegeglückten szenischen Wiedergabe einiger oratorischer Werke geehrt wurde, und Martin, wurden noch Othmar Schoeck und nun, 1950, auch Willy Burkhard mit einem Kompositionspreis des Schweizer Tonkünstlervereins ausgezeichnet. Sie stellen, wie auch diesmal Lieder Schoecks und Teile aus Burkhards Oratorium „Das Jahr“ bewiesen, Schweizer alemannische Variationen der deutschen Musik aus der Wurzel der Romantik dar und sind geistig durchaus dem 19. Jahrhundert verpflichtet.

Ganz jenseits eines bloßen „Zivilisationsstandards“, der offenbar dank der besonders günstigen wirtschaftlichen Lage der Schweiz auch — wenigstens zum Teil — ihre neue Musik auszeichnet, stehen zwei wichtige Namen im Vordergrund: Conrad Beck und Robert Oboussier. Beide berufen sich auf das Zeiterlebnis der Gewaltherrschaft. Es schlägt sich in Becks „Innominata“ • in Form einer vital-ungebändigfen Anklage nieder, die „Stellung nimmt“, in Oboussiers „Antigone“, einer aus Rezitativ, Arie und Elegie gebildeten „Gesangszene“ antikischer Wucht nach Worten des Sophokles, wird hingegen das Ewig-Menschliche als Leiderlebnis bejaht und in schöner lyrischer Vertiefung überwunden. Nachhaltende Eindrücke hinterließen noch W. Geisers „Fantasie für Streichorchester, Pauken und Klavier“, Richard Stur-zeneggers Liedersuite „Omaggio“ nach Tasso sowie Kammermusikwerke von A. Brunner, K. H. David, P. Müller (Orgelkonzert) und anderen. Epigonales oder Außenseitiges (im Sinne von P. Valerys Wort „Was nur für einen allein Wert hat, ist nichts wert“ abzulehnen) gab es außerdem noch genug, in beiden mag sich das Bemühen der Festveranstalter gespiegelt haben, auf einem notwendig retrospektiven Fest dieser Art alle Richtungen und Eigenarten zu berücksiditigen. Unverständlich mußte jedoch das „Schlußwort“ mit H. Sutermeisters Ballettmusik aus „Romeo und Julia“ bleiben, die im Konzertsaal ihre ganze entwaffnende Dürftigkeit erwies.

Das gut organisierte Musikfest hatte dem Zürcher Tonhalle-Orchester unter Leitung V. Andreaes und seines Nachfolgers Erich Sdimid ein gewaltiges Arbeitspensum auferlegt. Mit Ernst und Nachdruck wurde in Zürich immer wieder betont, daß ein Musikleben ohne Gegenwartsschaffen zum langsamen Sterben verurteilt sei und die zahlreichen segensreichen Einrichtungen des Sdiweizer Tonkünstlervereins, der etwa die Ziele des früheren Allgemeinen Deutschen Musikvereins verfolgt, dienen in diesem Sinne der gesamten Schweizer Musik, ohne eine bestimmte Brufsgruppe zu bevorzugen. Ihre bisherigen Leistungen auf dem Wege zu einem nationalen, dabei immer über die Grenzen blickenden Musikleben, sind um so be-aditlicher, als sie mit einer geringen Subvention zuwege gebracht wurden: es gibt noch Mäzene, in der Schweiz.

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