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Ende der Experimental musik
Amsterdam, im Juni 1948
Der Sinn der jährlichen Musikfeste der „Internationalen Gesellschaft für neue Musik” ist — neben einem Zusammentreffen der Delegierten aus allen Mitgliedstaaten — ein kulturell wichtiger und bedeutungsvoller: das Neueste, Stärkste, Zukunftsträchtigste aus diesen Musikländern in guten Aufführungen bekanntzumachen und so vor einem internationalen Forum einen gültigen Querschnitt durch das Musikschaffen der letzten Jahre zu geben. Auch das 22. Musikfest der Gesellschaft, das im Juni in Holland abgehalten wurde, hatte die Aufgabe, dieser Idee zu dienen. Oft genug seit 1923 (Musikfest in Salzburg) nahmen richtungweisende und bedeutungsvolle Werke von diesen Musikfesten aus ihren Weg in die Welt, nicht so sehr als „Erfolgstücke” wie als Vorboten oder gar gültige Beispiele eines neuen, fruchtbaren Stils. Solche „Pionierarbeit” blieb das diesjährige Musikfest schuldig. Nichts, was wirklich neu, wirklich fruchtbar wäre, war zu hören. Auch die jungen, neuen Namen, die bei diesem Fest bekannt wurden, hatten nichts entscheidend Neues zu bieten. Es war ein Querschnitt durch mehr oder minder solides, mehr oder minder gekonntes Schaffen aus vielen Ländern der Welt — ohne besondere Problematik, ohne besondere Anregungen. Die Jury der I. G. N. M. mag daran schuldlos sein, offenbar sind ihr keine neuartigeren Werke Vorgelegen. Um so merkwürdiger. Liegt das Neue dieser Jahre darin, daß man nicht „neu” zu sein versucht?
Das einzige Experiment des Festes wirkte nicht überzeugend: ein Wiegenlied für 29 Streicher und 2 Harfen des sehr begabten jungen polnischen Komponisten Andrzej Panufnik versucht, eine einfache Volksweise vor einer Klangkulisse von absteigenden Vierteltönen um so stimmungsstärker erklingen zu lassen — ein Effekt, der bestenfalls müde wirkte und von der gesunden musikan- tischen Kraft der slawischen Völker wenig in sich hatte. Gerade die Polen dürfen den vielleicht stärksten Erfolg des Amsterdamer Musikfestes für sich buchen: die symphonischen Etüden für Klavier und Orchester von Artur Malawski, einem 44jährigen temperamentvollen und kräftig zupackenden Erben der verfeinerten Farbenkunst Szymanowski9. In drei Orchesterkonzerten ansonsten einige Namen von Rang: Malipiero, der feine alte Venezianer, mit seiner noblen 5. Symphonie, Roger Sessions (2. Symphonie) und Walter Piston (Sinfonietta) als kraftvolle Vertreter einer noch stark europäisch beeinflußten neuen amerikanischen Musik, der Belgier Raymond Chevreuille mit einem etwas forcierten Konzert für Orchester, der 67jährige Holländer Sem Dresden mit seinem 2. Violinkonzert. Ein separates Orchesterkonzert mit holländischer Musik brachte Willem Pijper und Henk Badings zu neuen Ehren, ließ Vater und Sohn Landrö erfolgreich zu Wort kommen und machte mit dem interessanten Lčon Orthel bekannt. In den zwei Kammermusikkonzerten zeigte ein feines Werk für Tenor, 2 Bläser und Streichquartett „Put away the Flutes” von Humphrey Searle eine kultivierte Verbindung englischer Geistigkeit mit der Strenge der „Wiener Schule”: Searle war Schüler Anton Weberns. Auch die junge Australierin Glanville-Hicks hat in Wien, bei Egon Wellesz, studiert; ihr amüsantes Concerto da camera hatte Erfolg. Der Spanier Julian Bautista lenkte mit vier Kammerliedern die Aufmerksamkeit auf sich und das Bläserquintett des jungen Tschechen Stepan Lucky war ein witziger musikantischer Abschluß dieser beiden Konzerte.
Von österreichischen Werken hatte die Jury die Orchestersuite „40. Mai” des in Paris tätigen Alexander Spitzmüller ausgewählt, die im letzten, in Scheveningen abgehaltenen Festkonzert zur herzlich aufgenommenen Uraufführung kam. Drei knappe Sätze zeigten das technische Können und die diskret-moderne Schreibweise des Komponisten.
Achtundzwanzig Werke und einige gute Erfolge. Nicht mehr. — Das nächstjährige Musikfest der I. G. N. M. findet Ende April in Palermo statt. Es wäre schön, wenn es Bedeutungsvolleres zu bieten hätte, als das tm übrigen wohlorganisierte und sehr gastfreundliche Musikfest in Holland.
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