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Geschichte als Mythos und Vorstellung

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ELISABETH TARAKANOW UND ANDERE ERZÄHLUNGEN. Von Reinhold Schneider. Mit 18 Federzeichnungen von Hans Fronius. Herder-Verlag, Freiburg, 1968. Leinwand. 350 Seiten. DM 19.80. - REINHOLD SCHNEIDER: BEGEGNUNG UND BEKENNTNIS. Literarische Essays. Herder-Verlag, Freiburg. Zweite Auflage, Leinwand, 272 S. DM 19.80.

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ELISABETH TARAKANOW UND ANDERE ERZÄHLUNGEN. Von Reinhold Schneider. Mit 18 Federzeichnungen von Hans Fronius. Herder-Verlag, Freiburg, 1968. Leinwand. 350 Seiten. DM 19.80. - REINHOLD SCHNEIDER: BEGEGNUNG UND BEKENNTNIS. Literarische Essays. Herder-Verlag, Freiburg. Zweite Auflage, Leinwand, 272 S. DM 19.80.

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Nach einem Wort des Freundes Bergengruen hat Reinhold Schneider in Werk und Person die alt- gniechiischie Harmonie des Bogens und der Leier verwirklicht. Tatsächlich gibt es bei ihm zwischen dem Historischen und dem Subjektiven keine trennende Linie. Er durchdringt den geschichtlichen Stoff immer mit persönlicher Anschauungskraft, so daß seine Gestalten nicht in kühler Disttanz, vielmehr in unmittelbarer Nähe vor uns leben. Die sieben schönsten historischen Erzählungen sind anläßlich des 10. Todestages von Reinhold Schneider in einem repräsentativen Band vereinigt; Prof. Hans Fronius hat wie zu Schneiders letztem Buch „Winter in Wien“ auch hier kongeniale Illustrationen gezeichnet. Wenn Schneider damals von einem historischen Blatt des Zeichners gesagt hatte: „Er hat das Antlitz dieser Zeit in seiner Graphik gefaßt“, so gilt jetzt das Gleiche für alle Federzeichnungen von Fronius.

Doch wie hat der Dichter erst das Antlitz jeder Epoche „gefaßt“, in welcher er seine Geschichten spielen läßt! Wie hat er in jeder seiner Personen typische Züge konzentriert und über den Anspruch eines historischen Gemäldes hinaus den Sinn der Geschichte als einen durchaus tragischen enthüllt! Den Gestalt- wandel des Tragischen deutet der Reigen dieser Erzählungen an, deren Handlungen auf den verschiedensten Schauplätzen abrollen, von Rußland über Spanien und Portugal, über England und Frankreich bis Italien. Die dem Individuum einzig zustehende Antwort auf das tragische Grundgesetz der Geschichte ist das Opfer. Wir wissen aus vielen Büchern Schneiders, daß er in seiner christlichen Geschichtsdeutung dem irdischen Mechanismus der Macht die himmlische Gnade gegenüberstellt: Das Verhältnis zur Macht scheint ihm das wesentliche Problem der christlichen Existenz zu sein.

Um Macht und Gnade geht es auch in den in der Mitte des Buches stehenden beiden großen Erzählungen, die gewissermaßen die Polarität der Möglichkeiten darstellen: „Las Casas vor Karl V.“, und die dem Buch den Titel gebende Erzählung „Elisabeth Tarakanow“. Beide Erzählungen wird man mit Recht als Schaflenshöhepunkte Schneiders in der dichterischen Historie bezeichnen können. Die Szenen aus der Konquistadorenzeit — aufgegliedert ln mehrere markante Bilder — zeigen die Mission des Dominikanerpaters Las Casas, der den Kaiser an seine christliche Aufgabe erinnert, Schutzherr der westindischen Indios zu sein, weil sie durch die ausbeuterische Goldgier und ein bloß christlich getarntes Machtstreben der Spanier in den neuen Kolonien einer menschenunwürdigen Versklavung ausgesetzt sind.

Kleinere Geschichten umschließen die epische Mitte des Sammelbandes. „Das Erdbeben“: Lissabons Zerstörung als Zeichen der irdischen Hinfälligkeit. „Die Brüder“: Die

Auseinandersetzungen Philipps II. mit Don Juan d’Austria, dem Sieger von Lepanto. „Der Sklave des Veläz- ques“: Die anekdotische Begebenheit, daß der König dem Malknecht Pareja die Freiheit schenkt, weil er dank seiner Kunst einer höheren Lebensordnung angehört. „Der Edelstein“: Das Sinnbild der Königstreue in einer Episode aus der Zeit der Flucht des englischen Karl II., der als Angler verkleidet seinen Feinden entgeht usw.

Das Einfühlenkönnen in den tragischen Gang der Geschichte, in das Wesen und Denken der sie gestaltenden Persönlichkeiten findet eine Parallele bei dem Kritiker und Essayisten Schneider, der dank eines besonderen Fingerspitzengefühles das Werk und den schöpferischen Menschen dahinter zugleich erfaßt. Hatte der Band „Verpflichtung und Liebe“ in seinen Beiträgen jeweils eine große Gestalt aus der Geschichte des abendländischen Geistes zum Thema (etwa Shakespeare, Pascal, Schopenhauer), so gilt der jetzt schon in der zweiten Auflage vorgelegte Band „Begegnung und Bekenntnis“ (Ersterscheinung 1963) dem 19. Jahrhundert und den Dichtern der Gegenwart. Reihen sich die Betrachtungen über Feuerbach. Hegel, Kierkegaard, Burckhardt, Hebbel, Keller und Mörike einem Überblick über unsere Geistesgeschichte seit 1850 ein, so erhebt diese Zusammenstellung, wie der Herausgeber Curt Winterhalter betont, „keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist in der Person Reinhold Schneiders selbst begründet: Er verbrachte von Jugend an einen großen Teil seiner Zeit mit Lektüre und Studium“. Daß Schneider zur Literatur der Gegenwart wenig Beziehungen gehabt habe, widerlegt schon die Auswahl der hier zusammengestellten Essays über Gerhiart Hauptmann, Rilke, Hofmannsthal, Thomas Mann, R. A. Schröder, Carossa, Wiechert, Weinheber, Bergengruen, Gertrud von Le Fort, Benn, Bernanos, Wilder, Barlach und andere. Daß Schneider entsprechend seiner christlichen Lebensscbau in seinen Betrachtungen und Rezensionen Hinweis, Einverständnis, Dank einerseits mit Distanzierung und vornehmer Kritik anderseits vereinigt, ist klar: denn er fragt die Geister, denen er begeg net, immer wieder nach ihrem Bild von Christus. „Er tut es mit Ehrfurcht vor dem Geheimnis des ändern, mit Einfühlung in die Seele des Andersgläubigen und in Verbundenheit mit dem Bruder im Geiste“, wie der Herausgeber ihn charakterisiert. Die Rede, die der inzwischen gleichfalls verstorbene Dichter Werner Bergengruen bei der Gedenkstunde für Reinhold Schneider anläßlich seines 60. Geburtstages und der fünften Wiederkehr seines Todestages in Freiburg gehalten hatte, leitet das Buch ein: im

Gedanken an die Zukunft ist sie bemüht, das Bild des Freundes von bestimmten Mißverständnissen zu reinigen. Bezeichnenderweise schließt dieser Band mit dem Essay „Macht und Herrschaft in der Geschichte“, womit sich der Kreis zu den Themen der Erzählungen Schneiders hin vollkommen rundet.

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