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Apologie des Espressionismus

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Der Privatmann und seine Institutionen bauen heute nicht mehr. Als Bauherrn treten die staatlichen und städtischen, die bündischen und die gewerkschaftlichen Organisationen auf — und sie bauen, von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, so, wie überall und immer gebaut wurde, wenn die Verantwortung nicht dem Baukünstler übergeben, sondern, geteilt und gevierteilt, auf soundso viele Büros abgewälzt wird: konventionell, ängstlich und beamtenhaft. Das Individuum ist heute zu arm, um großzügig bauen zu können, das bürokratische Planungskollektiv aber geistig zu ' >thü::h>\k\, um großzügig auch in anderer als, bestenfalls, quantitativer Hinsicht bauen zu wollen.

Dennoch, auch in dieser Wüstenei pseudoimperialer Prunkfassaden, engbrüstiger Gemeindebauten und instand gesetzter Gründerzeithäuser gibt es in der Tat doch noch winzige bunte Oasen, kleinste Räume, in denen sich die Privatinitiative noch entfalten kann: auf ihnen siedelt sich eine Architektur an, ein Mittelding zwischen Bau- und Dekorationskunst, das man sinn- und stilgemäß als „Espressoarchitektur' bezeichnen sollte. Sie kommt im Gefolge der glänzenden Kaffeemaschinenungeheuer aus Italien und ist pünktlich überall zur Stelle, wo aus ihnen konzentrierter Mokka ausgeschenkt wird; sie wird charakterisiert durch abstrakte Dekorationen — einige Farbflecke genügen ihr schon, um eine Wand oder eine Decke zu schmücken —, durch eine Genügsamkeit der Mittel, die sich mit jedem Material zufrieden gibt, soferne sich dadurch nur dekorative Effekte erzielen lassen, und schließlich durch eine Lust am Bluff, die freilich zugleich das Positive an ihr ist: eine solche Architektur ist von vornherein kleinsten Räumen angepaßt — in größeren wirkt sie leicht aufdringlich und ein wenig ordinär. Mit Spiegeln, Farbklecksen und höchst rationeller Intelligenz verleiht sie dem Engen den Anschein des Weiträumigen. Sie stürzt sich, förmlich mit Vergnügen, auf allem Anschein nach ungeeignete, winzige, lichtlose, verbaute, vertrackt angeordnete Räume; sie läßt sich von Schwierigkeiten inspirieren — eine breite Hauseinfahrt genügt ihr schon: sie wird in die Hälfte geteilt — links Hauseingang, rechts das „Espresso“. In seiner Grundhaltung barock, in seinem Vergnügen am Exotischen — das er mit dem Jazz teilt — wohl auch romantisch, immer heiter: das ist wirklich ein neuer Stil, das ist der „Espressionismus“, der sich, daran ist kein Zweifer, wenigstens in Wien auch schon die Welt der Geschäfte und andere Lokale zu erobern beginnt und — Dank sei ihm dafür — die schreckliche Sitte der marmornen Geschäftsportale abzulösen beginnt. — Nun, dies alles mag heiter sein, aber der „Espressionismus“ hat auch seine interessanteren und sicherlich auch ernsteren Seiten. Wir sagten schon, daß er im privatwirtschaftlichen Bereich fast die einzige, weil billigste und mit der Realität im Einklang stehende Möglichkeit eines modernen Architekturstiles darstellt; seiner Neigung zum Ephemeren un-erachtet, hat er Grazie und Schwung, ist er intelligent, durchaus ein heiteres Kind der Moderne. Mehr noch: in einer Stadt, die arm ist, ist er der einzige, der überhaupt zeigen kann, was „modern“ eigentlich ist. Und mag er auch ephemer und Improvisation sein oberstes Gebot sein: gemessen am Offiziellen ist er Dokumentation geistiger Freiheit und künstlerischer Intelligenz und eines jeden Lobliedes würdig. Auch das des Kunsthistoriker: die österreichische Architektur hat jahrhundertelang willig und mit gutem Nutzen die Einflüsse des Italienischen über sich ergehen lassen, und so weit es ihr erlaubt ist, tut sie es nun wieder; daß sie sich heute nicht die Fassadengliederungen römischer Palazzi, sondern die geschickte Raumbehandlung und Fröhlichkeit italienischer Cafeterien und Bars zum Vorbild nimmt, nun, das liegt an der Zeit. Uebrigens hat auch der italienische „Espressionismus“ seine Vorfahren, und sein vielleicht wichtigster Ahne ist merkwürdigerweise die Gebrauchskunst und die Architektur der „Wiener Werkstätten“ gewesen; daß er sich frei weiterentwickeln konnte und ins Abstrakte hinüberblühen durfte, verdankt er den besseren Zeiren, die Italien erlebt hat. Was also von jenseits der Alpen, reicher und sicherer geworden, nach Wien zurückkehrt, ist zum guten Teil unser Erbe — mag sein, daß es gerade deswegen in Wien so freundlich empfangen und betrachtet wird.

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