6582907-1951_28_06.jpg
Digital In Arbeit

Das Bild des Vaters

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn ich heute das Bild des Vaters betrachte, da die leuchtende und rätselvolle Welt meiner Kindheit längst ferngerückt und hinabgesunken ist unter neue Lebenshorizonte, so daß ich zu manchen Zeiten schmerzhaft bewegt zurücklaufen muß zu dem Ort meiner Kindheit und Haus und Baum, Moor und See abtaste mit meinem suchenden Blick, ob nicht doch an ihnen etwas haftenblieb von jener plastisch nahen und doch nie mehr betretbaren Zeit — so tritt er mir immer näher; und nun, seit er nicht mehr lebt, ist er mir ganz nah.

Mein Elternhaus stand uralt und sonnenbraun auf einer kleinen Bodenschwelle, vor der bald die feuchten Wiesen übergingen in ein weites, braunes Moor, über dem draußen hinflutend der See silberte. Einst mochte diese Gegend sehr einsam und weltverlassen gewesen sein. Doch in meiner Kindheit schnitt zwischen Wiesen und Moor bereits ein hoher, strauchbewachsener Bahndamm hindurch, und an dem Blühen der Wiesen und dem strohgelben Schimmern des reifen Korns rollten schon damals die blanken, pfeilschnellen Expreßzüge und die schweren, verrußten Lastentrains als Boten einer fernen betriebsamen Welt vorüber, die für mich damals noch völlig rätselhaft und außerhalb meines Lebenskreises blieb.

In der Zeit des frühen Herbstes, wenn das Gras einen zögernden Wuchs bekam, war es in meiner Heimat Brauch, daß man das tägliche Grünfutter nicht mehr zu den Kühen in den Stall brachte, sondern man trieb diese hinaus auf die Wiesen und ließ sie einen lieben, langen Tag hindurch selber ihr Futter abweiden. Einer mußte dabei Hüter sein, und mir kam diese Beschäftigung wie gewünscht — konnte ich doch der ein-

zigen Leidenschaft meiner Kindheit frönen — konnte ich lesen — lesen — So saß ich auch eines dunstigwarmen Nachmittags jenseits des Bahndamms auf einem Steinhaufen und hütete auf den letzten Wiesen vor dem Moor unsere Rinderschar. Gegen die Sicht von daheim war ich durch den hohen Damm gedeckt, und die Kühe weideten friedlich vor mir.

Tief und tiefer ließ ich mich hineinsinken in das geheimnisvolle Leben des Buches, das aufgeschlagen auf meinen bloßen Knien lag. Auf dem Bahndamm hinter mir brauste ein schwerer Schnellzug vorbei. Ich schenkte ihm keinen Blick.

Als das Buch zu Ende war, hob ich mit einem tiefen, erlösten Aufatmen den Kopf und ließ meine Augen traumverloren über die Wiesen schweifen. Ganz allmählich erst schien es mir, als ginge mir diesmal etwas ab. Ich saß doch noch hier auf dem Steinhaufen und hütete des Vaters Kühe! Ich saß noch — doch die Kühe, die sah ich nicht mehr um mich!

Himmel! War es ihnen zu langweilig geworden und waren sie ohne mich heimgetrottet? Der Bahndamm besaß weiter vorn einen Durchlaß für die Straße, und so sprang ich rasch empor an dem Damm, um auch jenseits die Straße bis zum Hause überblicken zu können.

Aber auch drüben lag die Straße leer. Fassungslos wandte ich mich zurück und suchte noch einmal die Moorseite ab. Ein jäher Stich fuhr mir auf einmal bis ins Herz!

Dort — do/t draußen fast am Rande des Moors gegen den See hin sah ich noch die letzten, rot- und weißscheckigen

Rinder dahinstürmen, den Schweif steil in der Höhe — ein Zeichen, daß sie in einem wilden Lauf begriffen warenl

Im nächsten Augenblick flog ich schon barfuß wie auf Windesflügeln über die Wiese hin. Von unten konnte ich keines

der Rinder mehr sehen, und als ich mir im jagenden Laufen Zeit zu einem kurzen Gedanken erlaubte, mußte ich schließen, daß der Durst nach dem schwül-warmen Tag die Kühe dem See zugetrieben haben mochte. Dem See, dem See!

Ich stürzte in die größte Angst meiner Jugend hinein.

Ich fragte nicht, ob mir der Atem ausging, ich achtete nicht auf die Brombeerranken, die mit ihren Stacheln meine nackten Waden blutig rissen, ich rannte nur und rannte.

Doch als ich keuchend vor dem Schilf stand, waren die Kühe schon in dem hohen Wuchs untergetaucht. Ich schrie, drohte und lockte — vergebens. Ich wollte hinter ihnen nach auf den breitgetretenen Spuren — doch damit trieb ich sie nur noch weiter hinein gegen den tiefen See.

Da mündete kaum fünfzig Schritte vorn ein breiter Moorgraben hinein in den See. Sein Wasser hatte feinsten Moorschlamm wie auf ein vorspringendes Delta hinein in den flachen Seestrand aufgeschüttet. Dort fehlte das Schilf, und die braune Kruste schien leidlich tragfähig zu sein. Wie, wenn ich dort hinauslief und den Kühen den Weg ins tiefe Wasser abschnitt!

Ich fühle es noch heute, wie mir bei diesem verwegenen Entschluß die Zähne klapperten, denn schwimmen konnte ich in diesem Alter noch nicht. Der Seespiegel war in der letzten Zeit etwas gesunken. Als ich auf der trockenen Moorkruste stand, fühlte ich mich schon halbwegs sicher. Nur jetzt keine Zeit verlieren! Ich lief erst und tappte dann, als die Kruste der Schlammbank durchbrach, hastig gegen das offene Wasser hinaus.

Ich brach bis zu den Knien durch; Ich wußte nicht, wie ich die Beine aus dem Schlick wieder lösen sollte. Ich ließ mich nach vorne fallen, um leichter loszukommen. Meine kurze Schulhose, das weiße, frischgewaschene Hemd, alles war bald über und über von Moorspritzern bedeckt. Und dabei stand ich scheinbar noch gar nicht im See, denn erst dort draußen begann das offene Wasser. Ich keuchte mehr noch als vorher beim Laufen und wühlte mich verzweifelt weiter. Dabei sank ich mit jedem Ruck tiefer in den Schlamm hinein. Aber ich merkte die Gefahr nicht

Erst als ich in dem Morast steckte, so lang die Beine waren, und nicht mehr vor und zurück konnte, fing ich zu be-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung