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Das bittere Geheimnis

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Des Menschen Jugend ist ein wunderlich Ding. Sie ist der Pein und des Zauberwaltens so voll, daß er nie dazu kommt, sie zu kennen, wie sie ist, bis sie auf immer vergangen ist. Sie ist das Ding, dessen Verlust er nicht ertragen kann, das Ding, dessen Schwinden er mit unendlichem Kummer und Bedauern beobachtet, und sie ist auch das Ding, dessen Schwinden er wirklich insgeheim mit einem trübseligen Erfreutsein bewill-kommt, das Ding, das er nicht wieder besitzen möchte, denn könnte ihm kraft irgendwelcher Magie seine Jugend zurückgeschenkt werden, dann möchte er sie freiwillig nicht noch einmal leben.

Warum dies so ist? Der Grund liegt da, daß das fremde und bittere Geheimnis des Lebens uns nie so fühlbar wird wie in unserer Jugend. Und was ist es, dies fremde und bittere Geheimnis des Lebens, dessen wir so eindringlich und unaussprechlich, so schmerzlichbitter und bitterfroh gewahr werden, wenn wir jung sind? Es liegt darin, daß wir bei unserem Reichtum so arm, bei unserer Macht so ohne Habe sind ... daß wir die Herrlichkeit und den unmöglichen Wohlstand rings um uns sehen, einatmen, schmek-ken und riechen, daß wir mit einer unerträglichen Gewißheit den ganzen Bau des verzauberten Daseins spüren, ja, spüren, daß das glückseligste, reichste, gnadenhafteste, beste Leben, das je ein Mensch auf Erden kannte, unser ist, und zwar sofort, unmittelbar und ewig unser ist in dem Augenblick, in dem wir willens sind, den Schritt zu tun, die Hand auszustrecken, das Wörtlein zu sagen — und daß wir dabei dennoch wissen, daß wir auf immer nichts behalten und besitzen können. Alles vergeht; nichts dauert; im Augenblick, in dem wir unsere Hand auf ein Wesen legen, zergeht es wie Rauch und ist entschwunden, und die Schlange frißt uns wieder am Herzen; wir sehen dann, was wir sind, und was aus unserem Leben werden muß.

Ein junger Mensch ist so stark, so verrückt, so selbstsicher, so verloren. Er hat alles und kann nichts gebrauchen. Immerdar wirft er sich mit der großen Schulter seiner Kraft gegen phantomische Schranken; er ist eine Woge, deren Gewalt sich unter zeitlosen Himmeln mitten im verlorenen Ozean bricht; er streckt die Hand aus, um ein Gekräusel bunten Rauchs zu greifen; er begehrt alles, spürt Hunger und Durst nach allem und kriegt schließlich nichts. Und am Ende wird er von seiner eigenen Stärke vernichtet, von seinem eigenen Hunger verschlungen, von seinem eigenen Reichtum arm gemacht. Am Ende wird er, dem Geld und Sachbesitz gleichgültig sind nichtsdestoweniger von der Habsucht geprellt, eben von seiner Habsucht, mit der verglichen das Königs Midas Goldgier zur Lumperei wird.

Und dies ist der Grund, weshalb, wenn seine Jugend dahin ist, jeder Mensch auf jene Spanne seines Lebens mit unendlichem Kummer und Bedauern zurückblickt. Es ist dies das bittere, kummervolle Bedauern eines Menschen, welcher weiß, daß er einst ein großes Talent besaß und es vergeudete, eines Menschen, welcher weiß, daß er einst einen großen Schatz besaß und nichts davon hatte, eines Menschen, welcher weiß, daß er einst die Kraft zu allem besaß und sie nicht nützte.

Alle Jugend wird zwangsläufig .vertan'; es liegt in der Natur der Jugend, daß dem so ist; das ist's, warum alle Menschen mit Bedauern an ihre Jugend denken. Und dieses Bedauern wird eindringlicher, wenn uns die Erkenntnis kommt, daß diese große Vergeudung der Jugend durchaus unnotwendig war, wenn wir spötfischbitter erheitert entdecken, daß Jugend etwas ist, was nur junge Menschen besitzen, und mit dem nur alte Menschen etwas anzufangen wissen. Und deshalb sehen wir in späteren Jahren mit Kummer und Bedauern auf unsere Jugend zurück und erkennen, welch ein Reichtum unser gewesen wäre, wenn wir ihn genutzt hätten — und dann gedenken wir der Weisberg, Snodgrass, O'Hare und schließlich auch zärtlich-freudig der guten, flachen Visage dessen, der eine Ziffer unter den Zahllosen auf dem Asphalt war, und der unser erster Freund in der großen Weltstadt wurde, gedenken wir des grauen Angesichts, in dem die millionenhaften fremden und heimlichen Großstadtmysterien verdichtet waren, gedenken wir dessen, der unser Freund, unser Bruder und der namenlose Mensch dieser Erde für uns war. Aus dem Buch „Von Zeit und Strom, Rowohlt-Verlag, Berlin.

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