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Kinder

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Kinder staunen; und wir Erwachsene staunen über Kinder, wiewohl wir doch selbst welche gewesen sind. Oder vielmehr, weil wir selbst Kinder gewesen sind, denn sie erinnern uns mit ihrer kleinen Gegenwart stets wieder daran, ein wie vorübergehender Zustand Menschsein eigentlich ist. Kinder stehen noch nahe am Ursprung der Zeit, die für sie ja kaum erst begonnen hat und noch zart geherzt im Schöße der Ewigkeit liegt. Kinder hegen noch Furcht und Zittern vor der Zeit: im Jubel über Kurzweil und in der schrecklichen Angst vor der Langeweile (Ursache allen „Unartigseins“), während sich für uns eine Karikatur der Ewigkeit, nämlich die Routine, dazwischengeschoben hat. Streift dich die Hand der Geliebten, ist es wie ein elektrischer Schlag; legt dir im Bahn-kupee ein fremdes Kind vertrauensvoll seinen Arm auf das Knie, ist es ein ähnliches Glück. Kinder entstehen nicht erst in der Umarmung, welche ja nur eine Folge ist, nein: wenn sich zwei Menschen tief in die Augen sehen, in diesem Augenblick wird der erste Grund zu uns gelegt ... Aus Liebe geboren, vermögen Kinder auch nur von Liebe zu leben, denn sie haben ja nichts und müssen alles empfangen: sie sind von Natur Bettler. Deshalb haben wirkliche alte Bettler auch oft etwas Kindliches an sich. Und sp wie der Bettler„ geistig gesehen, ein wesentlicher Typus des Menschen ist: einer, der absolut das darstellt, was jeder eigentlich ist —

auch.,das-iKind ein iastimmtes, &^d<4e$,.Menschen, welches ihn auf. die natürlichste Weise an das Uebernatürliche' erinnert. Das Kind ist o sehr Leben„ daß es uns an jenes nach dem Tode gemahnt.

Denn das Kind ist praktisch ewig (erlebt es doch alles erstmalig und nicht als Folge); es ist praktisch unsterblich (denn es wächst mit jedem Tag und weiß nichts vom Tode); es ist schön (auch noch das mißgestaltete Kind ist es); es hat einen selbstverständlichen Drang zur Seligkeit als seinen ureigensten Bezirk; es ist in einem natürlichen Sinne unschuldig; es ist gläubig. Und das ist vielleicht der wichtigste Punkt. Wie soll ein kleiner Jemand, der eben erst die Worte lernt, diesen Worten nicht glauben? Wie soll er, der alles von den Eltern empfängt (was übrigens mit Selbstverständlichkeit hingenommen wird '....), ihnen nicht auch völlig vertrauen? - Das Kind hat eben keine Kritik!, könnte man einwenden. — Es hat sie noch nicht nötig!, kann man replizieren.

So steht das Kind vor uns als eine Erinnerung an den Ursprung und eine Erinnerung an das Ziel. An den Ursprung: unser selbst und der Menschheit. Denn in solch einem winzigen Personellen werden nicht nur deine eigenen vier Jahre, sondern UrJahrtausende der Menschheit lebendig. Und an das Ziel: Kindheit ist etwas Verlorenes, von dem wir alle spüren, daß es gesucht, gefunden, daß es wiedererrungen werden kann. So waren wir, so müssen wir werden.

Manche Erwachsenen verwechseln Einfalt mit Dummheit und glauben, durch Abstellen jeder Gehirntätigkeit sich das Kindlichsein erringen zu können. Das ist ein Irrtum. Das Kind ist, so zwischen fünf und elf Jahren, zweifellos genialisch und denkt bereits die entscheidenden Gedanken seines Lebens. Es hat ja auch viel mehr Grund zum Denken als der Durchschnittsmensch (in den es sich dann leider verwandelt): es hat keine Erfahrung, es macht Erfahrung. Und eben weil Phantasie dazugehört, um Erfahrung zu machen (wie jemand gesagt hat), so hat es Phantasie und ist Poet — sofern das von poein, machen, kommt. Es macht viel mehr als wir, denn es spielt.

Hier das Gedicht eines kleinen Mädchens: Wolken über unserer Stadt

Als der Abend herankam und die Sonne unterging, sah man, wie ein Wölkchen das andere fing. Rosig beleuchtet vom Abendschein, schaute ich entzückt in den Himmel hinein.

Nun weiß ich sehr gut, daß Kinder auch grausam sind, gefräßig und manches andere noch, kurz, daß sie so unleidlich sein können, wie es nur ein Mutterherz erleiden kann. Aber nicht darauf kommt es an, sondern auf das Wesentliche, welches mit dem Unverweslichen identisch sein dürfte. Kindheit, vergänglichster Zustand der Menschheit (denn wer kann auf sein Alter zurückschauen?) — unvergängliches Bild des Menschen!

Ein uralter russischer Einsiedler, der sich kaum noch auf Krücken bewegen konnte, wurde von einem Bauern gefragt, wie er sich fühle.

Aeußerlich wie der Tod, sagte er, innerlich wie ein Kind.

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