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Das Ende einer Schauspielkunst

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Erstmalig im Ensemble des Burgtheaters seit Kriegsende trat nun Paula Wesse 1 y vor das Wiener Publikum in einem Drama von Terence Rattigan „Die lockende Tiefe“. Ein Stück,-das wie eine Etüde in moll, ein sanftes musikalisches Perpetuum mobile, in vielen Tönen und Halbtönen, einen englischen Vers variiert, der vom Teufel und von der lockenden Tiefe der blauen See spricht. Diese .dockende Tiefe“, die uns Kontinentalen meist gar nicht mehr als sehr lockend erscheint, ist der seelische Untergrund einer leib-seelisch unterernährten englischen Pastörstochter, 'die zwischen Selbstmordversuch und Selbstmordversuch steht, da sie zu dem Gatten, den sie verlassen, nicht mehr zurück will und den Geliebten nicht mehr lieben kann. Zwischen diesen beiden schwankenden und dubiosen Polen, genau zwischen Gashähn und Gashahn, eröffnet sich in unendlichen Seufzern der Einblick in eine Frauenseele, in ein Frauenleben entre deux ages. — Dieses nahe am Kitsch stehende Drama (der Kitsch hat keine scharfen Ränder, er fließt in vieles hinein, was an sich nicht kitschgebunden ist), wird nun von der Wessely unter diskreter Assistenz von Attila Hörbiger, Ernst Deutsch, Helmuth Janatsch und Stefan Skodler in einer dunklen, gefühlsstarken Atmosphäre zelebriert, in sparsamen Gesten und Bewegungen, mit oft geschlossenen Augen, mit vielen Seufzern und vielen leisen Worten. Das hat manchmal etwas Beklemmendes an sich. Man ahnt Schicksale und schweigt bisweilen betreten. Die Kunst des hohen Schauspiels ist hier an einer Grenze angelangt und auf einer Höhe, die Angst bereiten kann. Vergleitet hier der gekonnte Traum ins Leben? Wie sind Spielworte zu werten, die randvoll mit Existenz, mit persönlichem Leben, gefüllt erscheinen? Ist eine solche Entäußerung, eine solche Selbsthingabe in eine Rolle heute noch möglich? Oder, wie man es umgekehrt ausdrücken kann: ist eine solche Hereinnahme einer Rolle in eine personale Ex'istenz nicht sehr gefährlich? — Es ist sehr leicht möglich, daß wir hier an den Grenzen einer Epoche europäischer, besonders deutscher Schauspielkunst stehen. Und daß die Wessely als Zeugin für das Ende dieser Epoche Gültigkeit besitzt: einer Epoche, die etwa mit Kainz einen ersten und andersartigen Ausdruck fand, und der das Erlebnis, die nahtlose Verschmelzung der Existenz des Schauspielers mit seiner Rolle alles und das Höchste war. Die geistig vorgebildet war in Goethes „Gefühl ist alles“ (das „Gefühl“ sehr streng genommen als Selbstaussage und Opfer der Person), und für die Faustens G.retchen, unvergeßlich mit der Wessely verbunden, als Symbolfigur gelten darf. Unwillkürlich denkt man hier an die „heilige Prostitution“ der Antike. — Diese Epoche geht heute zu Ende. Obwohl es die Nachfahren, und fast alle unserer heutigen Schauspieler sind Nachfahren, nicht sehen, nicht wissen wollen: und sich deshalb abplagen, etwas zu geben und zu leisten, was heute nicht mehr zu geben und zu leisten ist — einem heutigen Publikum, in einem Zeitalter, in dem die Atomkernzertrümmerung eindringlich mahnt, die Spiele der Atomkernwandlung im Theater und in der Dichtung abzubrechen. Als erste scheinen das die spanischen Stierkämpfer erfaßt zu haben: die berühmtesten Toreros Spaniens wollen nicht mehr auftreten, beunruhigt durch die krasse Gier, die Profanität des Publikums. Der spanische Stierkampf ist nämlich,, und deshalb steht er hier als Exempel, die älteste erhaltene Form des kultischen Dramas in Europa. Wie ergriffen erhob sich da das Publikum, tun den im Opferkampf gefallenen Gott, verkörpert im Stier, zu ehren. Kult und Muße eines anderen Zeitalters fanden hier ihre Pflegstatt. — Wer ehrt heute noch das Opfer eines Schauspielers? Welcher Bühnenkünstler versteht selbst noch seine Berufsarbeit eis ein solches Opfer? — Das ist ein Ende. — Damit ist nicht gesagt, daß nach ihm keine neuen Spiele mehr folgen können. Diese werden aber einen ganz anderen Charakter tragen: vielleicht so wie eine moderne Lyrik, wie sie Dylan Thomas repräsentiert — intellektuelle Spiele, die hinter vielen Masken sehr verhalten das -Eigene und Eigentliche verbergen und bergen. In einer sehr indirekten Aussage, die Schonung gewährt: dem Inhalt und seinem Zeugen.

Beeindruckt folgte das Publikum des Akademietheaters dem Spiel der Wessely.

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