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Das Erdbeben war gestern

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MAN KONNTE JEDESMAL DIE GLEICHEN Reaktionen beobachten: Näherte sich der Zug Skopje, wurden die Fahrgäste lebhaft, erinnerten einander an das große Beben, tauschten rührende Geschichten aus von gelungenen Rettungsaktionen und bereiteten sich, meist unterwegs zu den Ruinen des klassischen Hellas, auf ein Trümmerfeld vor. Erwartungsvoll lehnten sie im Fenster, als die Stadt ins Blickfeld rückte, Form annahm. Balkanatmosphäre. Vorstadtcharakter, Intakte Häuserfassaden. Nichts Ungewöhnliches zeigte die Kontur der Stadt. Schale Düsternis und Ruß am Bahnsteig. Keine Trümmer. Im Vorbeigleiten, plötzlich und für einen Moment nur, Sprünge in Mauern, einmal eine zusammengebrochene Hausfront. Nichts sonst. Leise Enttäuschung blieb in den Coupes. Man sprach kurz zur Situation. Offenbar hatten die Journalisten übertrieben. Es konnte nicht so schlimm gewesen sein. Skopje ist kein Trümmerhaufen. Sie hatten es mit eigenen Augen gesehen. Und kehrten zu vertrauten Gesprächsthemen zurück.

EINMAL, ALS UNS MUSSE ZUR Verfügung stand, beschlossen wir, die Fahrt zu unterbrechen und einige Tage in der Stadt zu verbringen, die so hart geschlagen worden war. Wir wünschten keine offiziellen Kontakte. Nur Schlendern in den Straßen, Fahrten in der Stadt, Gespräche, um die Größe der Katastrophe zu erahnen und den Rhythmus des Aufbaues zu spm-en. Als wir in Skopje aus dem Zug stiegen, war die Sommerhitze Schon vorbei, die das Talbecken, umgeben von schwermütigen Bergen, die wie Hügel wirken, mit stickiger, heißer Luft füllt. Ein leichter Regen, der auch in den folgenden Tagen anhielt, ließ die flächige Silhouette der Stadt verschwimmen. Geruch von Mörtel lag in der Luft. Hatte man Skopje nicht mit den europäischen Städten von 1945 verglichen? Europa war damals ein kranker Kontinent gewesen, in dem eine zerschossene und zerstörte Stadt der anderen glich. Aber das Beben traf Skopje zu einer Zeit, als die westeuropäischen Städte dichter und dichter in Glas und Beton gefaßt wurden, die osteuropäischen der Monotonie strukturloser Architektur-kongtomerate entwachsen konnten, und selbst Skopje sich entschloß, die Balkanatmosphäre aufzulockern.

Derartige Vergleiche konnten jetzt auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden Wenige Reisende waren mit uns ausgestiegen. Der Regen mochte zur Düsternis des Bahnsteigs beitragen. Nässe, Traurigkeit, auch Schmutz. Noch zeigte nichts die Katastrophe an. Dies kam plötzlich und erschrek-kend, beim Betreten der Halle: geknickte Säulen, gepölzte Decke, notdürftig gesicherte Risse in der Mauer. Das Leben hinter den Schaltern schien als eine auf Zeit beschränkte Improvisation abzulaufen. Die Dokumentation der Katastrophe wirkte beklemmend. So war es fast überall. Deckte die erste rasche Fahrt durch die Stadt den Schaden kaum auf, so sickerte er durch beim Betreten von Gebäuden und Wohnungen. Überall die Stützen, die provisorisch geflickten Löcher und Brüche, hastig gelegte Ziegel. Überall der in Erscheinung tretende Mangel an Wohnraum. Flickwerk hielt die Gebäude der Stadt zusammen. Die Bewohner aber, die ihre Existenz zwischen Mörtel und Stützen eingerichtet haben, tapfer und optimistisch, sprechen vom Neubau Skopjes.

IMMER WAR DIESER STADT ÜBEL mitgespielt worden. Thraker, Illyrer, Griechen, Römer, Goten, Hunnen, Vandalen, Awaren. Normannen, Slawen, Bulgaren, Byzantiner, Türken, Österreicher, Serben, Deutsche hatten diesen strategisch wichtigen Ort, der den Weg nach Griechenland, Bulgarien und hinauf nach Belgrad freigibt, besetzt. Zerstörung und Plünderung ohne Zahl. Schon zweimal, 518 und 1520, war die Siedlung von starken Beben erschüttert worden Die Österreicher, die 1797 das damals türkische Skopje — Usküb — für kurze Zeit in Besitz nehmen konnten, erprobten an der Stadt die Taktik der verbrannten Erde. Nie erfüllte sich in moderner Zeit der Traum, Hauptstadt eines Makedonischen Reiches zu sein.

Als Marschall Tito das neue Jugoslawien schuf, erhielt auch Skopje die Chance. Zum Beweis der Gleichberechtigung und der Zugehörigkeit zum ^!atsverband begannen Gelder nach Makedonien zu fließen. Es wurde an der einen sichtbaren Stelle investiert: in Skopje. Skopje war 1945 der Mittelpunkt eines unterentwickelten Gebietes. Nun wurde ein Sprung in das 20. Jahrhundert vorbereitet, Entwicklungsprojekte saugten die Menschen an. Skopje rückte innerhalb weniger Jahre vom achten auf den vierten Platz vor. Glas und Beton gaben der Balkanprovinzstadt mit dem türkischen Einschlag neue Akzente. Die Univei-sität wurde auf sieben Fakultäten erweitert. Die Stadt wuchs und wucherte, wenn auch auf Kosten des Hinterlandes, das unentwickelt blieb. Neben der Produktion von Asbest, Zement und Textilien trat schließlich, als entscheidendes Zeichen, ein Stahlwerk. Allerdings wurde die finanzielle Last der Investitionen zu einem beträchtlichen Teil der kapitalkräftigsten Provinz, Slovenien, aufgebürdet, daß wegen der makedonischen Hauptstadt auf manches Eigenprojekt verzichten mußte.

DANN BEBTE DIE ERDE. Von den rund 200.000 Einwohnern starben 1700 in den Trümmern. Die Uberlebenden verließen die Stadt in Panik. Die Bevölkerungszahl fiel auf 60.000. Spontane und rasche Hilfsaktionen der jugoslawischen Regierung und vieler anderer Länder ließen die ersten schlimmsten Tage überstehen. Dann reisten die Neugierigen, die Journalisten, die Offiziellen ab. Zurück blieben die Angehörigen langfristiger - Hilfsaktionen, die Planer und die aus dem Gleichgewicht geworfenen Bewohner, die in Zeltlagern am Rande der Stadt hausten. Das Beben hatte das alte Viertel am Nordufer des Wardar zu 70 Prozent zerstört. Die übrigen Bereiche der Stadt waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Es galt, grundsätzliche Fragen zu stellen.

Die Regierung traf auf Brioni fünf Tage nach dem Beben die Entscheidung: Skopje wird an der alten Stelle neu und schön innerhalb fünf Jahren wiederaufgebaut. Die Solidarität der Jugoslawen sollte sich an der Neuschöpfung der Stadt erhärten. Bauarbeiter aus allen Provinzen wurden in Marsch gesetzt. Ausländische Hilfsaktionen, voran Briten, Amerikaner und Russen, begannen mit der Demolierung zerstörter Gebäude und der Konstruktion von Wohnungen aus vorfabrizierten Teilen. Die Bevölkerung kehrte zurück Und der Strom riß nicht ab. Die Wohnungsfrage wurde zum entscheidenden Problem.

Seitdem wird fieberhaft gebaut und die Stadt trägt den Geruch des Mörtels. Doch es wurden Stimmen laut: Sollten die Investitionen„ welche die nationale Wirtschaft belasteten, nicht auf Makedonien aufgeteilt anstatt wieder auf Skopje konzentriert werden? Und müßte nicht ein umfassender Plan für den Wiederaufbau vorliegen? Schon die erste Fahrt durch die Stadt dokumentiert diesen Mangel schmerzhaft. Die Formlosigkeit der vorfabrizierten Häuser und Baracken an den Peripherien entspricht den improvisierten Reparationen an beschädigten Häusern in der Stadt. Wohl arbeitet im Rahmen, der Vereinten Nationen ein polnischer Architekt, Adolf Cibrowski, an einem grundsätzlichen Konzept. Doch niemand weiß, woher die notwendige Milliarde Dollar kommen soll, die die Verwirklichung dieses Planes verschlingen wird.

VIELLEICHT IST ES NUR DER REGEN, der in diesen Tagen die Stadt so melancholisch macht. Der Optimismus der Bewohner hat sich noch nicht materialisiert. Mörtel und Ziegel geben dem Balkancharakter der Stadt etwas zusätzlich Drückendes. Das Beben hat wohl nicht nur die Stadt, sondern auch ihre Seele getroffen. Die forcierte Bautätigkeit lindert bisher kaum den Wohnraummangel. Das Leben zwischen Stützen, Balken, beschränkt auf wenige Quadratmeter, geht weiter. Nur das Treiben auf der Straße hat den alten bunten Charakter wiedergefunden. Die vielen Bauarbeiter, die unter bevorzugten Bedingungen arbeiten, haben inmitten des Mangels eine infla-tionsähniiche Prosperität hervorgerufen. Es gibt genug Geld in Skopje. Doch mangelt es an Waren und Gütern.

Unter den Bewohnern findet sich viel Mut, Tapferkeit und Zukunftserwartung. Die häufigen kleineren Beben, die sich seit dem 26. Juli 1983 ereigneten, werden mit Sarkasmus quittiert. Man spricht von der Zukunft, von dem neuen und schönen Skopje.

Im Regen verschwimmen die Umrisse der Stadt — doch dies ist es ja: Skopje ist gegenwärtig keine Stadt, kein Organismus. Nur ZusVm* mengestückeltes. Zusammengewürfeltes, ein Ameisenhaufen, eine Gold-gräberkolonie. Die Eewohner sprechen von der Geburt einer neuen Gemeinschaft. Für den Besucher ist wenig davon sichtbar. Vielleicht fehlt der starke Glaube, der sie auszeichnet. Schon liegt das Erdbeben weit in der Vergangenheit, schon ist es Geschichte. Ihre Gegenwart verkörpert sich im Aufbau der Stadt.

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