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Der erste Krater

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Bleibt mir fort mit rohen Eiern und sauberen Tischtüchern! Verschont mich mit Jungfrauen! Jeder Vergleich wäre ein Sakrileg, wenn von dem neuen Auto die Rede sein soll. Denn kein Ding auf Erden Ist sö rein, so heikel, so unberührt, so zerbrechlich, so sensibel, so prädestiniert für übertreibende Adjektiva wie unser neues Auto.

Eines Tages steht es vor der Tür. Seit Monaten war es bestellt. Man hat gewartet. Man hat gelernt, mit ihm zu schalten und zu walten: kuppelnder- wie ferienpläheschmiede- denderweise. Man war sehr’ neugierig auf sein Aussehen, obgleich man ihm schon tausendmal begegnet war.

Nun ist es da, und man schaut ihm ins Gesicht. Sieht es nicht ganz anders aus als seine Kollegen? Freilich steht es vorerst auf Reserve und bewahrt eine gewisse Distanz. Man muß sich erst beschnuppern. Doch bald hebt es sich aus der endlosen uniformierten Kolonne der Fahrzeuge heraus: „Mein blaues Auto.“ Es hat noch keinen Vornamen, aber mit der Duzerei ist es ¡a nicht so eilig.

Das neue Auto hat nichts mit dem Mann von der Straße gemein. Es kommt aus einem Lande, wo es weder Pfützen gibt noch Nägel. Banale Worte, wie Kraftwagen, Verkehrsmittel oder Gebrauchsgegenstand hat es nie gehört. Sollte man ihm nicht eine kleine Freundlichkeit erweisen? Vielleicht ein Maskottchen, ein kreuzbesticktes Kissen oder eine Vase mit Hyazinthen zu seiner Erbauung? Oder wäre es zünftiger, ihm alle Kinkerlitzchen vom blanken Leibe zu halten?

Endlich hat die Familie einen neuen Gesprächsstoff. Es bilden sich zwei Parteien: eine pro, die andere nti Vase. Das Leben wandelt sich. Neue Freundschaften erblühen auf Parkplätzen und an Tankstellen. Man geht später aus und kehrt früher heim. Man lächelt über Bekannte, die dem neuen Gefährt weniger Interesse widmen als der passend zum Etui gewählten Freundin. Dabei schaltet er sich viel weicher und liegt ganz anders auf der Straße. Jeden anderen Wagen läßt er hinter sich. Rast mit 180 Stundenkilometern die Berge hinauf und braucht höchstens zwei Liter. „Nicht möglich, Sie haben das gar nicht bemerkt?’

Das neue Auto steht weder mit vier noch mit zwei Beinen auf der Erde. Es thront auf dem Podest gigantischer Vorzüge, die wir ihm unterschoben haben. Es schwelgt in blitzendem , Chrom, in dem wir Unsere tausend kleinen Eitelkeiten spiegeln. Kein Wunder, daß wir es schonen, pflegen, polieren und hätscheln, wo wir nur können.

Der frisdigebackene Automobilist steht bei schleditem Wetter eine halbe Stunde früher auf als gewöhnlich und geht zu Fuß ins Büro. Er meidet Freunde mit Hunden. Rotznasen, die sich vorzugsweise mit Schmutz- firtgern seinem Wagen zu nähern pflegen, droht er mit dem Staatsanwalt. Sein ehemals robuster Humor ist mit azurblauem Lade überzogen. Er strotzt von Mißtrauen und hält alle anderen Autofahrer für blinde, betrunkene Idioten, denen der Sinn nach seinen Kotflügeln steht. Rote Flecken an gegnerischen Vehikeln erschrecken und ängstigen ihn. Er ist zimperlich wie eine alte Jungfer, und wenn er unter Assistenz der gesamten Nachbarschaft sein Auto in die Garage bugsiert, verschleißt er dabei dreimal soviel Zeit und Nerven, als ihn die überfüllte Tram jemals gekostet hat. Er selbst kann schon mal einen Puff vertragen, aber das Auto — das wäre nicht auszudenken!

Was ist denn da los? Doch vollkommen unmöglich, kann ja gar nicht sein! Oder? Wir wagen kaum hinzuschauen, tasten vorsichtig mit den Fingerspitzen darüber, sehen noch einmal nach, glauben es nicht, ignorieren es aus tiefster Seele — und haben es dennoch schwarz auf blau: das erste

Kratzerchen! Ganz unauffällig und harmlos, kaum erkennbar für Unbefugte, wird Cs für uns zu einer barbarischen Verstümmelung. Eine Welt bricht zusammen, der Traum von meinem „funkelnagelneuen“ Auto ist ausgeträumt, zu Ende, vorbei, für immer erloschen. Das Häßliche hat den Sieg errungen über das Schöne! Die Zeit hat ihren rostigen Zeigefinger auf den Kotflügel gelegt, um mahnend ein Zeichen der Vergänglichkeit in seinen Lack zu kratzen. Da ist es eingraviert, schwarz in Azur: Bekennt euch zu eurem Kratzer, nehmt ihn hin, adoptiert ihn! Jetzt dürft ihr „du“ zu eurem Auto sagen.

Aus „Kleiner Auto-Knigge“, Sanssouci- Verlag, Zürich.

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