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Der Kampf mit dem Engel

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Im neueren deutschen Schrifttum sind Rilkes „Duineser Elegien“ wohl ein einzigartiger Fall von Inspiration. Es steht keine Zeile in diesem aus zehn Gesängen gefügten Gedicht, die nicht eingegeben ist. So ist es zu verstehen, daß ein Deutungsversuch dem anderen folgt. Mancher muß von verwirrender Wirkung sein. Gewiß sind Einzelheiten schwer zu enträtseln, ist selbst das Hauptmotiv des Engels in kein erklärendes Wort zu fassen: es ist eben Gestalt. Wenn Edmee de la Rochefoucauld in ihren Erinnerungen an Paul Valery (Das goldene Tor, Heft 4, Jahrgang 1950) berichtet, eine Pariser Zeitung habe ihre Leser aufgefordert, sich über die völlige Unverständlichkeit eines Gedichtes Valerys — des „Meer-Friedhofs“ — zu äußern, aber die überraschende Erfahrung gemacht, daß die Mehrzahl der Leser den Sinn des Gedichtes klar erfaßt habe, so liegt der Gedanke nahe, daß eine Umfrage über die Duineser Elegien zu demselben Ergebnis führen könnte: die Summe des Gedichts, die in ihr mitgeteilte Daseinserfahrung, wird wahrscheinlich von vielen Lesern verstanden, erlebt; das Gedicht faßt auf großer Höhe ein Lebensgefühl zusammen, das uns alle' durrhschauert hat.

Und doch ist eine Vermittlung, die wirklich nur dienen will, vori großem Werte. Denn wem sollte es gelingen, als einsamer Leser oder Hörer sich die ganze, im höchsten Grade verdichtete Bilderwelt aufzuschließen? Heinrich Kreutz erstrebt Interpretation in strengstem Sinne, nicht Deutung, und zwar Interpretation von Zeile zu Zeile, die gleichwohl bemüht ist, die Sinnzusammenhänge bestehen zu lassen und an das Hör- und Sehbild in ihrer Einheit gebunden bleibt; immer wieder fordert er zum Sprechen und Hören auf. Er verzichtet auf das Gespräch mit der Gegenwart, so groß die Versuchung dazu ist; auch das Interesse an der Person des Dichters soll ihn nicht ablenken; ihm kommt es einzig darauf an, der Sprachgestalt des Werkes zu begegnen, „Was wird ausgesagt und welchen Sinn hat diese Aussage?“ Die Antwort gibt eine Anmerkung: „Die Elegien sagen nicht nur über unser Dasein aus, sondern sind so. große Dichtung, daß sie dieses Dasein in seinen Nuancen uns erfahrbar machen.“ Es ist „Werbung und Abwehr“, „Ja und Nein zum Engel“. Der Kampf mit dem Engel wird verstanden als „eine Grenzerfahrung unseres Daseins, allerdings die lebendigste, im wörtlichen Sinne erschütterndste und voller Entscheidung. Der Engel ist die absolute Grenze unseres Daseins.“

Mit diesen letzten Worten scheint der Interpret seinen Vorsatz, nicht danach zu fragen, „wer die große, die Elegien beherrschende Gestalt des Engels ist“, zu überschreiten; ebenso mit der in der Erörterung der vierten Elegie gewagten Andeutung, daß der Engel eine „Metapher des persönlichen absoluten Gottes“ sein könnte, auch die Frage nach dem „dorten“ der fünften Elegie rührt an das Problem, „ob das Weltbild der Elegien immanent sei oder an entscheidenden Stellen transzen-diere“. Aber wer kann diesem Problem ausweichen? Wird doch an zwei Stellen — in der ersten und in der achten Elegie — Gottes Name genannt, in Zusammenhängen, die uns undurchdringlich scheinen, vielleicht gar nicht erforscht werden sollen. Gerade solche Stellen bezeugen die Inspiration, die selbst über das dem Dichter Faßbare weit hinaus geht. Es kennzeichnet die Dichtung, daß das Grenzenlose sich mit äußerer Genauigkeit verbindet: Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer schwindet das Außen. (Siebente Elegie.) Oder, wie Heinrich Kreutz im Text zur achten Elegie bemerkt: „Das Thema der Elegien, der Anstoß zu ihrer Klage ist immer wieder der Mensch, der .unterwegs' ist, und zwar als einer, der noch nicht angelangt ist, nicht nur in der Erstreckung seines zeitlichen Schicksals, sondern auch in seinem inneren Wesen.“

Halten wir inne mit dieser Einsicht, angesichts der Totenwelt, die Rilke auf einzige Weise gestaltet hat! Der Interpret verspricht uns die Erörterung offen gebliebener Fragen — die wohl nur aus dem Ganzen des Werkes beantwortet werden können — in folgenden eingehenden Monographien. Heute ist mit der exakten Formulierung der Fragen schon Wesentliches gewonnen. Die Interpretation von Heinrich Kreutz wird sich darin bewähren, daß sie zum objektiven Sein des Rilke-schen Wortes führt. Damit ist der Grund möglicher Deutungen gelegt. Wichtiger aber ist, daß das Vermögen zu sehen, zu hören erweckt, gebildet, verfeinert wird. Das Unsagbare dieser ins Grundlose geöffneten Innenwelt, die „Fülle und das Nichts, die in eins gesetzt wird“ — ergreift uns in Rhythmus, Bild und Klang.

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