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Digital In Arbeit

Der Rucksackpriester

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Die .Katholische Arbeitsgemeinschaft für geistige Erneuerung* — Sitz: Bilthoven, Holland — und die .Aktion Ostpriesterhilfe“ veranstalteten unter Mitwirkung des Katholischen Instituts für kirchliche Sozialforschung, Holland, einen Kongreß zum Studium der deutschen Flüchtlingsfrage. Der Kongreß Kirche in Not* fand vom 8. bis 11. Februar 1951 in der Heinjvolkshoch-schule „Drakenburgh“ bei Hilversum (Holland) statt.

Selbst in Westdeutschland weiß die Öffentlichkeit nur, bitter wenig von Arbeit und Schicksal der 2 8 0 0 „Rucksackpriester“, die sich im Dienst der Ver-triebenenseelsorge wirklich verzehren. „Rucksackpriester“ hat sie der Volksmund genannt, weil sie meist zu Fuß, selten mU . dem Fahrrad, unendlich weite Bezirke durchwandern, um die ihnen anvertrauten Gemeinden, durchschnittlich 30, vielfach aber 60 und gar 80 Dörfer, zu betreuen und in ihrem Rucksack den Altarstein, das Meßgewand und Meßgerät samt ein paar Habseligkeiten mit sich schleppen. Anders ist es nicht möglich? Sie wissen, ja sie spüren, daß sie morgen oder übermorgen auf dem Wege zusammenbrechen, weil ihre Kräfte einfach nicht mehr reichen. Denn von den 2800 Priestern der „Rucksackseelsorge“ haben mehr als 360 das 7 0. Lebensjahr überschritten. 1520 von den 2800 stehen zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr und — sage und schreibe nur — 3 6 sind weniger als 30 Jahre alt. Sie allein werden vielleicht den übermenschlichen Anforderungen, die das tagtägliche Leben und Wandern an sie stellt, eine Zeitlang gewachsen sein. Die anderen aber?

Heimatlos, ausgemergelt, am Ende ihrer physischen und seelischen Kräfte, tun die „Rucksackpriester“ einen Dienst, der 3200 Mitbrüdern bereits das Leben gekostet hat. Die nicht wiederzugebende schwere Arbeit führte zu Erschöpfung, zu Herzkrankheiten, zumal noch der Hunger und — häufig genug — auch Unfälle hinzukamen. Denn es waren ihrer einmal 6000, denen die priesterliche Sorge für die 6 Millionen jetzt aus dem Osten vertriebenen Katholiken oblag.

Erinnern wir uns doch kurz: 18 Millionen Deutsche wurden im Winter 1946 aus den deutschen Provinzen östlich der Oder und Neiße vertrieben. 12 Millionen fanden Unterschlupf im restlichen Teil Deutschlands, 3 Millionen kamen auf der entsetzlichen Flucht um, 3 Millionen wurden irgendwohin verschleppt und werden wahrscheinlich nur zu einem Teil heimkehren. 12 Millionen also fristen heute — wie oft wurde das auch an dieser Stelle geschildert! — in Bunkern, Kasernen, Lagern, Kellern und Dachzimmern Restdeutschlands ein jämmerliches Leben. Die Hälfte der 12 Millionen besteht aus Katholiken, und 80 Prozent dieser katholischen Ostdeutschen leben in der Diaspora. Sie „wohnen“ in Ställen, Scheunen, Dachböden, wurden zwangsweise in bereits überfüllten Häusern „untergebracht“, lechzen in Bunkern, deren Bewohner sich gegenseitig den Platz zum Schlafen streitig machen, nach frischer Luft. Kann hier ein Geheimnis der Liebe und Sünde noch verborgen bleiben? Schon das kleine Kind sieht und weiß alles. So erstarb das Schamgefühl, aber auch jede Menschenwürde; nur „Raubtiermenschen*, die allein dem Instinkt und dem Faustrecht folgen, vermögen es dort auszuhalten. Die Christen jedoch? Sie leben in einer Hölle, und wenn nicht Wunder der Bruderliebe geschehen, müssen sie mit Gott brechen und dem Anarchismus verfallen. Denn auch auf die Tröstungen ihres Glaubens, ihrer Kirche müssen sie ja doch weithin verzichten.

Das ist der Wirkungskreis der „Rucksackpriester“, die sehr wohl wissen, was noch viel zu wenig Katholiken Westdeutschlands vollauf erkannt zu haben scheinen: Wenn die katholische Kirche in Deutschland diese Legionen von der völligen Entwurzelung bedrohter Menschen verliert, ist auf einem Vorposten abendländischer Kultur das Christentum vom Untergang bedroht. Die Kirche in Deutschland selbst vermag mit dem ihr aufgezwungenen Problem moderner „Völkerwanderung“ nicht fertig zu werden. Und so fällt dem anflutenden Unglauben eine Position nach der anderen in die Hand, wenn nicht Hilfe kommt.

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