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„... der Völkerbund!“

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WERDEN UND ZERFALL DES HABSBURGERREICHES. Von Robert A. Kinn. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln. 283 Seiten. Preii 11 MO S.

Der österreichische Geschichtsfreund Wird lieh darüber freuen, daß diese! Buch ins Deutsche übersetzt worden iit. Sinn und Grenzen des Werkes stellt der Autor mit dankenswerter Klarheit in der Einleitung fest: „Diese Untersuchung ist... in keiner Weite als eine Geschichte der habsburgischen Monarchie gemeint. Wohl aber bemüht ie ich, die Kernfragen der Existenz dieses Reiches zu verstehen und zu beleuchten.“ Es ist in der Tat nicht einmal „Werden und Zerfall“ de Reichel in systematischer Geschichtsschreibung dargestellt: das Werden ist in der Disposition des Buches nur ein kurzer Auftakt lur Untersuchung des Verfalls.

Doch wie immer ich der Verfasser ein Thema gestellt hat: ein Buch iit informativ. Ei verdankt große Vorteile dem Land seiner Entitehnng. Der amerikanische Leser hat bekanntlich die vortreffliche, nachahmungswürdige Eigenschaft, leicht faßliche Bücher zu verlangen. So iit denn auch diee Buch mit tatiitiichen Tabellen versehen, die dem Leier hochwillkommen lein müssen. Je mehr wir es satt lind, über die alte Monarchie lobende oder ichmähende Phrasen zu hören, die uns über die Parteizugehörigkeit der Autoren, aber lonit über nlchti auf Erden informieren, um 10 freudiger hören wir die unbestreitbare Sprache der Zahlen.

Zu loben wäre noch ein anderer Bestandteil des Buche: der Anhang begrifflicher Definitionen; nur müßte er ganz ändert durchgeführt lein. An lieh möchte man freilich gar vielen Autoren politischer und historischer Werke auferlegen, für ein Glossar der verwendeten Ausdrücke zu orgen — gar manche zeitungideutsche Stilblüte könnte so ausgejätet werden. Doch dürfte dat nicht 10 geschehen wie hier (ich zitiere): „Integraler Nationalismus wird gemeinhin all der Typ eines besonder! intemiven, extremen Nationalismus verttanden.“ Ich möchte doch respektvoll meinen, daS man einen wissenschaftlichen Autor nicht darum liest, weil er hinschreibt, was gemeinhin verttanden wird, sondern darum, weil er dat fachlich Richtige klar macht. Den integralen Nationalismus also zum Beispiel verstehen teine Anhänger all di Doktrin, welche alle Verfassungsformen und politischen Programme an dem nachhaltigen Wohl der Nation mißt. ml},, ist ein Vorzug unterei Autors, daß er lieh einer aachlichen Haltung befleißigt und daher kaum eine Behauptung ohne Einschränkungen und Vorbehalte vorbringt. Dai geht freilich manchmal 10 weit, daß der Leier schließlich nicht weiß: Wai will denn Kann ichließlich wirklich gesagt haben?

Dat gilt überraschenderweise sogar für dai eigene Thema det Buchet — den Zerfall det Reiches. War der nun unabwendbar oder nicht? Doch mit vielem Wenn und Aber meint Kann wohl: er war nicht abzuwenden — jedenfalls nicht, sobald der Weltkrieg da war. Und dafür hat er ja gute Gründe zur Hand. Man kennt die Londoner Abmachungen, wo sich die Entente gegenüber Italien verpflichtet hatte, die Monarchie tödlich zu treffen. Auch führt Kann lehr richtig au, daß ich die Entente ja gar nicht in der Lage befand, lieh um die Erhaltung der Monarchie zu torgen. In diesem Punkt icheint es uns nämlich, als ob manche öiterreichischen Patrioten dat Vorgehen der Entente-Staatsmänner doch nicht ganz richtig be-urteilten. Wir wissen ei nur zu wohl: El gehört zu dem gewohnten, gefühlsmäßigen Egozentrismus der mitteleuropäischen Völker, daß man von den anderen verlangt und erwartet, lieh um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Der durchschnitt-liche Ttchechoslowake kann et heute noch nicht fatsen, wie ihn 1938 die Welt verlalten konnte. Ebenso kann et mancher gute ötterreicher nicht verstehen, daß zwanzig Jahre früher die Entente die Monarchie zerstören ließ. Da muß man doch wohl bedenken, daß ei.seit jeher im Krieg üblich iit, nicht an die Erhaltung, sondern an die Vernichtung dei Gegnert zu denken... Radetzkyi gegenteiliget Verhalten in Vignale war ein Unikum — und die Folgen können nicht zur Nachahmung reizen. Alto mußte die Monarchie wohl zerschlagen werden...? Die Frage ist noch immer nicht eindeutig beantwortet.

Heute freilich it etwa die verbreitete Meinung der (freien) Tichechoilowaken o, daß die Monarchie zwangsläufig zerfiel. Aber „vor Tiiche lat man'i ändert“. Vor Titche, dai heißt vor München und Jalta, erklärte Mataryk jedem, der et hören oder nicht hören wollte, daß ohne Beneä (und also auch ihn telbtt) die Monarchie eben nicht zerschlagen worden wäre... Da bleibt also noch manches zu lagen.

Nicht recht faßlich Iit auch det Autort Meinung über den großötterreichiichen Menschentyp. Die weitgehenden kulturellen und sozialen Gemeinsamkeiten lind einerteiti mit Händen zu greifen; es iit ebento klar, daß die Nachfolgestaaten nicht am Schlamperei, londem am guten Gründen 10 viele Rechte- und Verwal-tungiinititutionen beibehielten; anderseiti will ei der Autor vermeiden, zu weit zu gehen. „Diese Kräfte müssen deutlich von den zu Tode gehetzten literarischen Schlagworten vom österreichischen Menschen, der österreichischen Idee und der österreichischen Sendung unterichieden werden.“ Gewiß! Et wird auch — speziell heute! — von niemandem verlangt, lieh wie Hermann Bahr und Kurt Schuichnigg aufzudrücken; und das Beste bleibt wohl das, wai unser Autor ja zum Teil so löblich getan hat: positive Informationen bringen. Et wäre eine reizvolle Aufgabe, etwa prozentuell festzustellen, wie viele österreichische Paragraphen Anno 1938 in jedem Nachfolgestaat noch galten...

Sehr auftchlußreich iit des Autort Wahrnehmung, wie tich die unzureichende geistige Einheit Großötterreichi darin äußerte, daß ei keine gesamtösterreichischen Heldengestalten gab. Dat ttimmt! Ganz abgesehen von den antiösterreichischen Na-tionalhelden (Räköczi, Kossuth, Havlicek. Horia) gab ei zwar kleinösterreichische Helden (Andreas Hofer), alienfallt proösterreichische Helden einzelner Völker (Jellacie), aber keinen Helden dei Völker-bundei... Wai bedeutete Radetzky einem Madjaren?

Da ei einen total objektiven Menschen nicht gibt, glauben wir auch in Kann keinen solchen zu tehen. Dai „feudale“ Element der historischen Länder hat er nicht in sein Herz geschlossen. Daher nennt er dat Kurienwahlrecht von 1861 „anachronistisch“, was et doch meinet Erachtens gerade nicht war. Denn et entsprach tehr wohl den damaligen sozialen Vehältniiten.

Wir müssen et loben, wie der Autor die „geschichtlichen“ von den „geschichtt-losen“ Völkern untericheidet. Obgleich beidet natürlich relative Begriffe lind, iit dieie Untertcheidung doch gerade für den besprochenen Geschichtsabschnitt wesent lieh. Wir lind auch dafür dankbar, daß der Autor lieh hütet, s.hlechthin jede slawisch-nationale oder antideutsche Bewegung all panslawiiritch darzustellen; er weiß, daß et auch anti-pamlawiitische, daa heißt antirussische Kräfte gab. (Der klassische Fall iit der oben erwähnte Havliiek, antideutsch bii zur Weißglut, aber bewußter und boshafter Feind der russischen Autdehnung.) Nur meinen wir, daß er da noch nicht weit genug geht. Gerade in Böhmen war ein gut Teil der panslawisti-schen Rhetorik vor 1918 nicht nur „Dolus eventualis“, wie Kann et selbst andeutet! „Bloß ein Ersatz für föderalistische Reformen in der Monarchie“ — also ein Programm für den Fall, daß et mit Österreich nicht geht; es war vielmehr ganz einfach ein politisches Schreckmittel — Bluff. Weil man auf deutsch-österreichischer Seite — gerade auch bei den Deutsch-Liberalen, man lese Grill parzer! — über die „kleinen Natiönchen“ Bemerkungen machte, glaubte man auf slawischer Seite, mit dem „großen Bruder“ Eindruck zu machen...

Bei einem Wort Kanni möchten wir gerne verweilen. Er nennt Kaiier Karl „aufrichtig, ja frenetisch der Sache dei Friedens ergeben“. Wai soll nun wieder das heißen? „Aufrichtig der Sache des Friedeni ergeben“ iit 10 ziemlich dai höchite Lob, dai einem Regenten gespendet werden kann: „Denn lie werden Kinder Gottes genannt werden“, behauptet ein nicht unbekannter Text von solchen Menschen. „Frenetisch“ iit dai Gegenteil von Lob für einen politischen Menschen. Alto? Doch unter Autor iit ich dessen bewußt, daß er viele Fragen nur aufwerfen, nur andeuten konnte: Nicht oft spricht ein Forscher 10 bescheiden vom eigenen Werk. Um 10 bereitwilliger danken wir ihm für die reichliche Information •einer Untertuchung.

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