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Die Rache der Schöpfung

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Acht Jahre sind vergangen, seit Rachel Carsons „Der schweigende Frühling“ in Amerika erschienen ist; zwei Jahre danach starb sie — gewiß ein Opfer der Krankheit unserer Welt, für die der abstrahierende Begriff „Zivilisations-Schäden“ zu harmlos ist: an Krebs. Sie versachte nachzuweisen, daß unter dem Tarnschild des technischen Fortschritts die Menschheit im Begriff sei, nicht nur die organischen Prozesse des natürlichen Lebens zu stören, sondern daß sie sich der Gefahr preisgibt, sich selbst zu vernichten.

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Acht Jahre sind vergangen, seit Rachel Carsons „Der schweigende Frühling“ in Amerika erschienen ist; zwei Jahre danach starb sie — gewiß ein Opfer der Krankheit unserer Welt, für die der abstrahierende Begriff „Zivilisations-Schäden“ zu harmlos ist: an Krebs. Sie versachte nachzuweisen, daß unter dem Tarnschild des technischen Fortschritts die Menschheit im Begriff sei, nicht nur die organischen Prozesse des natürlichen Lebens zu stören, sondern daß sie sich der Gefahr preisgibt, sich selbst zu vernichten.

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Ihr Alarmruf blieb nicht ungehört. Immerhin brauchte es fast ein Jahrzehnt, ehe sich die Verantwortlichen darauf besannen, die katastrophalen Konsequenzen der Chemikalie DDT zu erkennen und die bedenkenlose, ja gedankenlose Anwendung durch Gesetze zu limitieren — so in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik. Was uns die Wissenschaft nach 1945 als Wunderdroge im Kampf gegen natürliche Gefahren anbot, erwies sich als Gefahr für die Natur. In der Tat, Moskitos, die uns in tropischen und subtropischen Zonen mit Malaria und Gelbem Fieber bedrohten, vermochten mit dem Zaubermittel aus den Retorten der Laboratorien ausgerottet zu werden. Aber das Anti-Gift zeigte toxische Wirkungen in der Übertragung auf die Früchte dieser Erde; es bewies eine Bösartigkeit, die nicht länger lockt, mit Vergnügen die Kurven und Schwünge jener Spezialflugzeuge zu beobachten, die ihr Pulver über Getreide- und Maisfelder streuen. Die Schöpfung, so scheint es, hat ihren eigenen Haushalt, der sich zum Guten oder Bösen den Ausgleich schafft. Freilich wurden die Ernten verdoppelt und verdreifacht. Aber wir haben den Preis dafür zu bezahlen. Die biologische Substanz unserer Erde erträgt genausowenig eine rücksichtslose Konjunkturpolitik wie unsere tägliche Wirtschaft: die Steigerung des Gewinns rächt sich durch

Verluste — nämlich des Kostbarsten, des Lebens und der Lebensfähigkeit. Was wir nicht bezahlen, haben die kommenden Generationen zu büßen. Die Gleichgültigkeit der Administrationen ist strafwürdig. Sie erlauben eine Verwüstung unserer Kultur, in ihren Folgen nicht weniger kriminell als die großen Verbrechen des Jahrhunderts: Verdun oder Vietnam, Auschwitz oder Dresden. Sie haben eine Grundaufgabe der Epoche nicht begriffen.

Man reist pünktlich wie im Trans-Europ-Expreß zum Mond. Aber zugleich duldet man die Verderbung unseres Planeten, von dessen Schönheit die Astronauten in ihren Kommentaren aus dem Universum in lyrischen Formulierungen geschwärmt haben.

*

Hier Überorganisation; dort Unterorganisation. Man erinnert sich, daß der Rhein bis zur Mündung durch die Nachlässigkeit belangloser Techniker im Frankfurter Raum verseucht wurde. Tonnenweise sammelte man durch Säuberungskommandos die Fische ein, die in der Kloake Europas mit weißen Bäuchen nach oben schwammen. Die Schuldigen sind, glaube ich, festgestellt. Wird ihnen eine Strsfe diktiert, die hart genug ist, um jedermann *r.J europäischen Umkreis deutlich zu machen, daß Verbrechen gegen die Natur in Wahrheit Verbrechen gegen

die Menschheit sind? Rheinaal zu bestellen, ob geräuchert oder in Dillsauce, wagt man ohnedies seit langem nicht mehr: man könnte gleich Tabletten bei den Chemiewerken zwischen Frankfurt und Leverkusen bestellen.

Bürger, die vom Leben nicht nur den Begriff des Überlebens, sondern der Freude und Verantwortung haben wollen, lassen das zu? Sie ziehen sich eine imaginäre Schlafmütze (die sie leider nicht mehr tragen) über die Ohren und nehmen nicht zur Kenntnis, daß auch die Ostsee biologisch zu sterben droht? Daß die großen amerikanischen Binnenseen nur noch die Existenz niederster Lebewesen kennen, wie der Lake Erie und der Lake Michigan? Sie denken darüber hinweg, daß die Rauchwolken unserer Technik anfangen, selbst den Kosmos zu verseuchen? Daß man in unseren Städten, sei es Zürich, Frankfurt oder New York, in den Stunden der „traffle jams“ nur noch gepreßten Herzens Atem zu holen wagt?

Norman Mailer, der seine Exzentrik vernünftig zu zügeln wußte, machte den Bürgern von New York in seiner Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters Vorschläge, die so absurd nicht sind. 60 Prozent der Luftverschmutzung qualmten aus den Abgasen der Automobile; Fahrräder solle man an zentralen Punkten auf Kosten der Stadt parken, die jedem zur Verfügung stehen, der von den Eisenbahnstationen der Commutors an seine Arbeitsstätte eilen möchte; dort habe er das Vehikel abends wieder abzustellen; nur Taxis sollten für den Verkehr in Manhattan zugelassen sein; an jedem vierten Wochenende habe jeder motorisierte Verkehr total stillgelegt zu werden.

Warum nicht? Der Literat Mailer hatte immerhin Einfälle, über die nachzudenken sich für die Regenten auch der europäischen Großstädte lohnte. Ob praktikabel oder nicht: Mailers Hinweise sind ein Appell an das Gewissen der technischen Operateure unserer Völker. Sie könnten ihre Phantasie ein wenig außerhalb der Stromlinienbahnen des sogenannten Fortschritts bemühen — denn Fortschritt lohnt sich nur dort, wo zugleich der Wille zur Bewahrung herrscht.

Was soll eine Progressivität, die am Ende die Selbstzerstörung der Menschheit und der Menschlichkeit bewirkt? Es gibt Schutzmittel. Aber dabei geht es um die Moneten. Längst könnten unsere Automobile mit Instrumenten bestückt sein, die uns vom Gift auf der Gasse befreien. Können sich das Mercedes und General Motors, die Volkswagen-AG, Fiat und Ford nicht leisten? Ihr Profit mag sich mindern. Aber die Kosten von heute sind die Unkosten von morgen. Das mag die Industriekapitäne im Augenblick nicht interessieren oder erst dann, wenn sie an Lungenkrebs im Hospital verröcheln.

An Warnungen hat es nicht gefehlt. Rachel Carson schrieb: „Die .Herrschaft über die Natur' ist ein Schlagwort, das man in anmaßendem Hochmut geprägt hat.“ Sie zitierte, bewußt oder nicht, das Bibelwort, das befiehlt, uns die Schöpfung Untertan zu machen. Wir haben freilich erfahren, daß sich die Schöpfung zu rächen weiß, wenn wir dem Gebot mit Arroganz und jenem Unverstand, der sich als Sachverstand ausgibt, zu folgen versuchen.

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