6635188-1957_10_16.jpg
Digital In Arbeit

Ein Herr aus Navarra

19451960198020002020

Franz Xaver. Sein Leben und eine Zeit. I. Band: Europa 1506 bis 1541. Von Georg Schurhammer SJ. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. XXXII und 794 Seiten. Preis 48 DM

19451960198020002020

Franz Xaver. Sein Leben und eine Zeit. I. Band: Europa 1506 bis 1541. Von Georg Schurhammer SJ. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. XXXII und 794 Seiten. Preis 48 DM

Werbung
Werbung
Werbung

Frucht einer über dreißigjährigen Forscherarbeit: Schurhammers Leben Franz Xavers. Der erste vorliegende Band behandelt die ersten 35 Lebensjahre des Heiligen und, in deren Rahmen, eine neue Geschichte der Anfänge und Ursprünge der Gesellschaft Jesu. Die minuziöse Genauigkeit der hier vorgelegten Forschungen bildet, so seltsam das auf den ersten Blick erscheinen mag, den eigentümlichen Reiz dieses Werkes. Schurhammer ist, Schritt für Schritt, den Lebensweg des Heiligen, in Europa und Indien, nachgegangen. Erstaunlich die Ergebnisse’ Wir „erfahren” mit ihm die Felder und Fluren, die Straßen, Marktflecken, die Gassen und Viertel aller europäischen Städte, die der Fuß des Heiligen bei Lebzeiten betrat — jeweils erforscht aus Urkunden, zeitgenössischen Berichten, archivalischen Quellen und der Autopsie. Wer also Paris, das Paris an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, wirklich kennenlernen will, seine Quartiere, Studienhäuser, Schenken, seine berühmten und weniger berühmten Bewohner in der großen Krisen- und Katastrophenzeit, als Frankreich in einen eineinhalb Jahrhunderte währenden Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Hugenotten eintrat, hat hier eine erstmalige zusammenfassende Schau vor sich. Dasselbe gilt für die vielen kleinen und größeren Orte und Städte Alteuropas, zwischen Navarra und Rom, zwischen Venedig und Lissabon, die der Mann aus Navarra, gehorsam Gott und seinem selbstgewählten Führer Ignatius, aufsuchte. Der Sohn des Doktors Juan de Jassu und der Doria Maria, der mit seinem baskischen Freunde Inigo in die Weltgeschichte einzieht, ist, irdisch gesprochen, ein Emigrant. Seine Familie gehört zu den treuesten Gefolgsleuten der Könige von Navarra, die 1512 den Spaniern unter König Ferdinand erliegen, ihr Land im Gebirge an sie verlieren. Ein adeliger Emigrant! Man soll diese primäre Voraussetzung seiner Lebenswege nicht übersehen. Europa wimmelte, seit den Tagen der Karolinger, von adeligen Herren, die, aus ihrer Heimat durch Fehde und Niederlage vertrieben, in anderen Landen und bei anderen Herren Dienst suchten und fanden. Xaver und Ignatius, dessen Familienfall ähnlich gelagert ist, wählen einen anderen Kriegsdienst und einen anderen König: den Himmelskönig, die göttliche Majestät. Auch das war an sich nicht selten in Alteuropa. Das Neue hier aber ist: der Herr aus Navarra und sein baskischer Freund Ifligo warten, in großer, unermüdlicher Geduld, in nie erlahmender Kraft und begabt mit einem tiefinnerlichen Frohsinn, mehr als ihr halbes Leben, bis ihnen Gott’ jięųe Dienste in-jĄeienįĘojtįen abfordert und ihnen Aufgaben anvertraut, von denen keiner dieser Ritter wußte, als er aus den lieblichen grünen Landen der Heimat auszog. — Es wirkt bei der Lektüre dieses Buches ganz seltsam: etwas von dieser frohgemuten, unerschütterlichen Geduld des Wartens und des Reifens (Irenäus von Lyon, der Enkelschüler des heiligen Johannes, des Sehers von Patmos, hat den weltgeschichtlichen und theologischen Sinn dieser hohen Tugend erstmals aufgezeigt) mittelt sich, durch die Lebensarbeit Schurhammers, auch dem Leser. Nichts, so lernt er hier, ist unwichtig; die unscheinbarsten Dinge des täglichen Lebens, des Hausrates, die „uninteressantesten” Zeitgenossen und Weggenossen, die Schulbücher, Predigten, Traktate, die Reden auf der Reise, die Briefe, die Händel des Tages: alles hat seine tiefere Bedeutung, steht im Dienste dessen, der seine treuen Diener und Freunde auf Wege führt, von denen sie nichts ahnen. Die sieben Gefährten, die da am 15. August 1534 in der kleinen, dunklen Unterkirche der Märtyrerkapelle auf dem Montmartre sich vereinen, der 43jährige Inigo, die 28jäh- rigen Faber und Xaver, der 25jährige Bobadilla, der 24jährige Rodrigues, der 22jährige Laynez und der 19jährige Salmeron — der einzige Priester unter ihnen ist Faber —, wußten nicht, daß sie hier Weltgeschichte „machten”. Nichts weniger als jede „Mache” stand ihnen im Sinn. Offenheit, Hingabe an Gottes Führung war ihre Kraft. Und sie wuchsen in ihre weltgeschichtlichen Rollen, indem sie sich immer tiefer in das lichte Dunkel hineinführen ließen. Das gilt besonders für Xaver, der da zur Indienmission berufen wird, so ganz schnell, weil eben gerade kein anderer da ist (so scheint es dem Auge des weltverhafteten Beobachters). Der Herr aus Navarra gehorcht, mit der Selbstverständlichkeit und Nüchternheit, seinem freigewählten Führer und älteren Freunde, wie es eine lebenslange Zucht und innere Disziplin, frei errungen und frei gewählt, ihm anwiesen.

Schurhammers erster Band hat zwei innere Höhepunkte, besser Gipfelschwellen, die uns in aller Breite aufgezeigt werden: das Zusammenwachsen und die innere Selbsterziehung der Kernschar um Ignatius (Xaver tritt hier zurück) und dann die Vorbereitung der Indienmission (S. 537 bis 699) mit den prächtigen, farbensatten Schilderungen Portugals um 1540. Portugal ist damals, wie Spanien am Vorabend der ersten Ausfahrt des Kolumbus (die mit der großen Austreibung der Juden 1492 zusammenfällt), im überhitzten Klima schwerer seelischer und innenpolitischer Wirren verfangen: Judenmord, Pogrome (Bettelmönche predigen und rufen das Volk zum Gemetzel auf), Inquisition. Die beiden aus Rom angekommenen Jesuiten werden dazu bestimmt, die armen Sünder zum ersten Autodafe in Portugal zu begleiten. Die Gesellschaft Jesu wird bekanntlich jede Mitwirkung an der Inquisition ablehnen — hier rühren wir an eine Grundsituation der frühen Gesellschaft Jesu: Ignatius persönlich und seine ersten Genossen sind an kritischen Punkten ihres geschichtlichen Weges immer wieder der Denunziation, ja der Anklage und Untersuchung durch diese und jene Inquisition ausgesetzt. Mit dieser Tatsache ist die andere eng zusammenzusehen: Ignatius und seine Gesellschaft wachsen, innerlich und äußerlich, Aug in Aug heran mit ihren großen weltgeschichtlichen Gegnern in den Lagern der protestantischen Reform, aber auch von innerkatholischen Reformkreisen und Reformbewegungen. Kaum ein Ort zwischen Paris, Venedig, Bologna und Rom, wo sie nicht Männer und Kreise treffen, die diesen anderen Reformbewegungen angehören. (Man vergleiche etwa S. 243 ff.) 364 f., 379 f., 395 f., 401 ff., 504 ff., 513, 597 ff.) Hier wird nun für den das Ganze, die Geschichte der europäischen Christenheit ins Auge fassenden Historiker und Betrachter der Geschichte (die ja viel mehr Gegenwart ist, als wir oft wahrhaben wollen) eine schmerzliche Lücke sichtbar, die freilich intim mit den großen Vorzügen dieses Werkes zusammenhängt. Schurhammer hat kein Auge, keine Optik für diese „Anderen”; er interessiert sich für diese und für die „Häretiker” nur, insoweit sie als Gegner von seinen Ordensgenossen angenommen worden sind. Besonders schmerzlich berührt es, daß die intimen Querverbindungen zwischen den sehr bunten innerkatholischen Reformbewegungen dieser Zeit und jenen zahlreichen Seelen und Köpfen, die aus dem Raum des damaligen Katholizismus heraus scheitern (wie nicht wenige spanische Erasmianer, wie Italiener um Ochino), ebensowenig angezeigt werden wie das große innerkatholische Reformwerk der katholischen Erasmianer. Es scheint, daß Schurhammer Erasmus von Rotterdam viel härter und schärfer beurteilt als so manche seiner Genossen bereits um Ignatius. Wohl wird auf dessen „Tragödie” verwiesen, wird er stereotyp als „Fürst des Humanismus” angesprochen — es fehlt aber, was so wichtig wäre, die runde, volle, person- und zeitgerechte Würdigung der großen Gegenspieler der frühen Jesuiten — sowohl in der damaligen katholischen Kirche wie im geistigen und spirituellen Raum Europas —, obwohl auf Schritt und Tritt auf sie verwiesen wird. Das große, strahlende Licht, das mit Recht über Ignatius und seinen Genossen leuchtet, läßt, in der Darstellung Schurhammers, nur schwere, harte Schatten auf die vielen und zum Teil so bedeutenden und geschichtsmächtigen Zeitgenossen fallen, die andere Wege gingen. Das sei hier mit aller Ehrfurcht vor dieser großen Leistung gesagt. Der Autor verzehrt sich, er gibt sich ganz aus in Liebe und unermüdlicher Arbeit im Dienste seines und seiner Heiligen: er hat ihnen ein Denkmal gesetzt, das in seiner plastischen Härte und unerbittlich alles andere ausscheidenden Größe etwas vom Kampfgeist der Epoche durchstrahlt ist, die eben damals seine Helden und Heiligen mit heraufführten: die Gegenreformation.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung