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Ein Roman des russischen Lebens

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Der Sturz des Titanen. Von Igor Gutenko. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt am Mein. Preis 16.80 DM

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Der Sturz des Titanen. Von Igor Gutenko. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt am Mein. Preis 16.80 DM

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Gusenko war Chiffrierbeamter der Sowjetbotschaft in Ottawa. Er lief 1945 unter Mitnahme von 102 Geheimdokumenten zu den Kanadiern über. Seitdem lebt er mit unbekanntem Namen in einer unbekannten kanadischen Stadt, um vor der Rache der Kommunisten sicher zu sein. In diesem leicht verschlüsselten Roman behandelt Gusenko den Zusammenbruch und den Tod Maxim Gorkijs. Der von Stalin nach Rußland eingeladene Gorkij lebt dort wie ein Fürst, bricht aber innerlich an einem Zwiespalt zusammen: theoretisch ist er, der langjährige Freund Lenins, ganz für das bolschewistische, volksbeglückende Regime, aber praktisch ist er doch Dichter und Seher genug, um immer wieder das Entsetzen vor den bolschewistischen Taten zu spüren. Heiligt wirklich der Zweck die Mittel, oder könnte es nicht sein, daß die Mittel den Zweck schänden? Der bolschewistische Geheimdienst dirigiert einen Geschichtsprofessor in Gorkijs Nähe, der ihn anregt, ein großes Nationaldrama über Iwan den Schrecklichen zu schreiben, wo die Greueltaten dieses sadistischen Wüterichs mit Gründen der Staatsräson gerechtfertigt werden. Es ist natürlich vorteilhaft, sich von einem Genie solch einen „Jagdschein“ für alle Untaten ausstellen zu lassen. Durch dieses Stück sucht der Dichter sozusagen sein Gewissen zu betäuben. Schließlich aber . merkt er, daß ihm die Idee des Stückes zugespielt worden ist; daß er, der freie Künstler, in Wirklichkeit nur ein bolschewistischer Roboter war! (Der Zufall will es, daß der Referent den bolschewistischen Film „Iwan der SchreckHche“ gesehen hat: eine melodramatische Geschichtsklitterung, wo der scheußliche Henker Maljuta Skuratoff zu einem Tscheka-Helden ä la Dsershinsky stilisiert wird. Es wimmelt von den frechsten Geschichtslügen; zum Beispiel erhält Iwan einen Brief und ruft schmerzlich aus: „Reval ist gefallen!“ — als ob er Reval jemals genommen hätte . . .) Das ist also die These des Romans: auch ein titanisches Genie und ein Volksfreund wie Gorkij muß endlich am Entsetzlichen der bolschewistischen Wirklichkeit zerbrechen. Zum Schluß wird der Dichter von jenem Geschichtsprofessor umgebracht (die Umstände von Gorkijs Tod sind bis heute unaufgeklärt geblieben).

Als Roman ist das Werk trotz sorgfältiger Arbeit dilettantisch, denn die Figuren leben nicht; doch die bolschewistische Lebensatmosphäre ist sehr gut getroffen, das fühlt man. Man begreift, wie unendlich viel es ausmacht, ob man an vierter oder an sechster Stelle nach Stalin genannt wird. Der Verfasser hätte lieber ein einfaches Erinnerungsbuch schreiben sollen, denn alle jene Szenen dort, die offensichtlich Erinnerungen sind, prägen sich stark ein. Wunderbar ist zum Beispiel die Aufführung im Kindertheater, wo Aschenbrödel, die Prinzessin auf der Erbse und andere Märchengestalten vor ein Gericht kommen und als unrealistische, bourgeoise Erfindungen abgeführt werden, damit man sie „liquidiert“. Ein Schrei der Entrüstung geht durch die zusehenden Kinder, sie schreien und weinen so lange, bis man ihnen Aschenbrödel, die Prinzessin und alle anderen wieder vorführt — noch am Leben und nicht liquidiert. Solch eine Szene vergißt man nicht.

Da Gusenko bereits 1945 abgesprungen ist, fragt man sich, ob sich das Leben in Rußland inzwischen nicht etwas freundlicher gestaltet hat. In manchem Aeußeren wahrscheinlich wohl, aber die Grundhaltung der Rache, der Lüge, der Menschenverachtung ist sicher die gleiche geblieben. Und man fragt sich bekümmert, wie lange dieser weltgeschichtliche Alpdruck, Sowjetrußland, die Kulturwelt noch ängstigen wird. Und womit wir solches verdient haben. Blickt man auf weltgeschichtliche, Parallelen — zum Beispiel den Islam —, so muß man sich sagen, daß diese Drohung noch Jahrhunderte fortbestehen kann. Und verdient haben wir es durch die unmenschliche Behandlung der Industriearbeiterschaft im ganzen 19. Jahrhundert: das 20. Jahrhundert büßt für das 19. Jahrhundert. „Alle Bosheit ist Rache“, heißt es bei Nietzsche. Allzu vieles Leiden macht stachlig und giftig, wie die Pflanzen und Tiere der Wüste zeigen. — Ich für mich glaube, daß der Titan Gorkij darum zusammenbrechen mußte, weil er kein Christ- war. Freilich hätte ihn dann weder Stalin eingeladen, noch auch wäre er gekommen. Sagen wir es lieber so: Auch der lebendigste Humanismus genügt nicht, um gegen die sowjetische Wirklichkeit bestehen zu können.

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