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Eine Spurensuche in den Zimmern der Armen
Wer erinnert sich noch an die Wohnung der Großeltern? Die meisten von uns schon wenige Jahre nach deren Tod bestensfalls nebulos. Alte Fotos mögen helfen. Als Hintergrund der Millionen unsäglicher Weih-nachts-, Geburts- und Muttertags-Schnappschüsse werden sie undeutlich sichtbar, die alten Interieurs, vom Dunkel der Wohnungen verschluckt, vom Blitzlicht überstrahlt - Anhaltspunkt verblassender Erinnerung.
Nicht nur die Kultur der Naturvölker schwindet rapide dahin. Auch europäische Lebensformen, Lebensstile, werden von einem überbordenden Güterangebot und der Geschmacksdiktatur der Werbung gnadenlos überrollt. Wie konkrete Menschen ihr Ambiente gestalteten, ist meist, wenn das Interesse dafür erwacht, wenn im Gedächtnis gekramt wird, schon vergessen. Fotos alter Bauernhäuser, Werkstätten, städtischer Wohnungen provozieren mannigfaltige Aha-Ef-fekte. Auch deshalb sind sie so beliebt. Aber noch gibt es die Wohnräume, an denen die Zeit spurlos vorübergegan-
gen zu sein scheint. Die Innenräume, in denen das moderne Leben allenfalls seine Duftmarken in Gestalt eines Kühlschranks, einer Elektrokoch-platte und/oder eines Radios hinterließ. Wer denkt daran, derlei zu dokumentieren?
Sieht man von Freiluftmuseen ab, in denen versunkenes Leben nachgestellt wird, sind die untergehenden Lebenszusammenhänge der alten Dinge nur fotografisch zu retten. Doch auch die Freiluftmuseen sind beim Nachstellen vergangenen Lebens auf Bilder angewiesen. Die Wichtigkeit solcher Bilder entschwindenden Lebens wird von vielen noch nicht ganz begriffen.
Eines Tages, wenn dies der Fall sein wird, wird man wünschen, Martin Rosswog hätte noch viel mehr Bilder ländlicher Innenräume angefertigt, als er ohnehin tatsächlich gemacht hat. Der Sozialpädagoge und Fotograf aus Bergisch Gladbach hat dieses Arbeitsfeld vor zehn Jahren für sich entdeckt. Sein Interesse gilt den für Europas Begionen typischen Wohn- und Lebensformen einfacher Menschen. Vor allem in den dünn besiedelten, stadtfernen Gebieten. Dabei legt er Wert auf Schärfe, bezieht aber niemals den Menschen in seine Bild-
kompositionen ein. Die in Jahrzehnten angesammelten Dinge, fast nur Gebrauchsgegenstände, kaum Unnützes darunter, erzählen von den Menschen, deren Leben und Arbeit. Modernes hat stets seinen Zweck. Herd, Kühlschrank, in Irland und in Finnland ein Fernglas griffbereit auf dem Fensterbett - der oder die Hausbewohner züchteten Schafe.
Rosswog steht in der Tradition eines Walker Evans, eines August Sander, eines Karl Bloßfeldt. Die Farbe, die er als Porträtist meidet, wird in den Interieurs als Ausdrucksmittel genutzt und erhöht zugleich die dokumentarische Aussagefähigkeit. Die meisten Menschen, deren Wohnungen er fotografisch inventarisiert, sind arm, oft bestürzend arm. Und es sind durchwegs ältere Menschen, über 60 - nur bei ihnen finden sich noch die vom Siegeszug des „schöneren Wohnens" unberührten Innenräume.
Auf seiner Jagd nach den Restbeständen des „archetypischen", traditionellen Wohnens bereiste Martin Rosswog in Spanien das kastilische Hochland um Avila, in Frankreich die Normandie, die Bretagne und Creuse, in Irland die Region um Kerry, die Äußeren Hebriden, die finnische Provinz Häme und nach 1989 auch Po-
len, die Ukraine, Rumänien. Er ist das Gegenteil eines Horuck-Fotografen, bereitet seine Reisen sorgfältig vor, korrespondiert mit lokalen Institutionen, läßtsich bei den Menschen, in deren Privatsphäre er eindringen möchte, einführen, leistet zuvor Überzeugungsarbeit und vermeidet jeglichen Anschein von Voyeurismus.
Mit Rosswogs Bilderserien liegt, so Josef Mangold in seinem begleitenden Essay, „eine neue Quellenart vor. Es sind Bilder, die in der Gegenwart entstanden sind und einen Blick weit in die Vergangenheit erlauben. Die AVohnkultur hat sich jahrhundertelang sehr langsam verändert, dagegen in den letzten 150 Jahren, vor allem
aber seit dem Zweiten Weltkrieg in einem rasanten Maße, so daß Stile und Moden kaum noch zu dokumentieren sind." Bosswogs Bilder seien die eines Künstlers, „dessen Intentionen klar umrissen sind. Es ist also möglich, mit schriftlichen Quellen und vor allem mit Befragungen der noch in diesen Gebäuden wohnenden Menschen ein sehr klares und authentisches Bild vom Wohnen der letzten sechzig bis hundert Jahre zu erhalten. Diese Bilder sind damit eine hervorragende Quelle für die Regio-nalforschung und sollten zu weiteren intensiven Forschungen anregen."
Ohne die Erklärungen einer jungen Polin wäre dem Betrachter beispielsweise die Bedeutung einer mit intensivem Blautürkis bemalten Zimmerdecke verborgen geblieben: In dieser Gegend zeigen die Zimmerdecken an, wo Mädchen im heiratsfähigen Alter wohnen. Viele Bilder belegen auch, wie lebendig nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Finnland die Tradition des multifunktionalen, gepflegten und zur Schau gestellten Ofens geblieben ist.
„In seinen Innenraum-Serien," so Mangold, „gelingt Rosswog der Spagat zwischen der künstlerisch-ästhetischen Photoarbeit und und der ethnographischen Dokumentation, die sich hier nicht - wie so oft - ausschließen, sondern verbinden."
LANDLICHE INNENRAUME
Photographien von Martin Rosswog.
Mit Essays von Josef Mangold
und Brigitte Schlüter.
SchirmerlMosel Verlag, München 1996.
144 Seiten, 92 Farbtafeln, geb., öS 577,-
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