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Einmal im Leben der Erste

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Der Gymnasialprofessor Johannes Freudenthaler ging in die Universität, wo er Abendkurse in Latein hielt für solche, welche es zu irgendeinem Zweck in kürzester Zeit lernen wollten.

Einstmals hatte er es sich anders gedacht. Aber das lag weit zurück. Er dachte kaum noch daran.

Damals, vor vielen Jahren, hatte er sich im Geiste auch auf diesem Wege gesehen, als er davon träumte, ein großer Gelehrter zu werden. Nicht einer von den immerhin nicht wenigen. Einer, wo die Welt aufhorchen würde. Einer, der mit einer neuen Lupe durch die Werke der Dichter und Künstler hindurch das geheime Leben ihrer Seele sah, das ihnen selbst nicht bewußt geworden war und noch weniger die Hunderttausend« erkannt hatten, die sich mit ihnen beschäftigt hatten. Eine Art Psychographie, von Professor Johannes Freudenthaler in Gesetze gekleidet. Das etwa waren die Gedankengänge: Das Werk ist der Wunsch, der geheime Wunsch, der verschleierte Wunsch, die Flucht aus dem Sein in den Schein und aus dem Sein des Scheins in den Schein des Seins. Ich werde euch zeigen, m welchen frommen Gesängen Euripides niedergelegt hat, daß er sich nirgends so wohl fühlte, wie in den verrufenen Häusern der Vorstadtviertel, daß Aristophanes der einzige ernst zu nehmende Mann von Athen war, weil er Athen nicht ernst nahm, daß ein durch Jahrhunderte nachgesagtes Urteil die Sophisten zu Sophisten und Sokrates zu einem Philosophen machten, während die Sophisten Philosophen und Sokrates ein Sophist in jenem verächtlichen Sinne war, ein gefürchteter Nichtstuer, der den Friseuren mit seiner geschwätzigen Neugierde die Kunden vertrieb.

An das alles dachte er schon lange nicht mehr. An einer Mittelschule hatte er sich durchgedarbt, und Privatstunden hatten das Studium der Kinder und alle Jahre eine Sommerfrische ermöglicht. Nun aber war er schon lange im Ruhestand. In den Abendstunden hielt er Kurse in Latein für Anfänger.

Er liebte diese Paukkurse nicht. Unter den Schülern der Schule, wo er früher unterrichtet hatte, hatte er noch Interesse und bisweilen Mitgeher gefunden, hier aber gab es nur widerwillige Mitläufer, die in möglichst kurzer Zeit lernen wollten, was sie dann in möglichst kurzer Zeit wieder zu vergessen hofften.

So war es ausnahmslos bisher gewesen. Aber diesmal gab es eine Ausnahme im Kure, noch ganz ungeklärt, wieso.

Blasius Plaininger war Angestellter einer großen Firma schon lange Jahre. Vorher war er in das Gymnasium gegangen. Das war nicht leicht gewesen, Er war oft krank. Aber das war es nicht in ereter Linie. Er batte bei dem Rennen nie recht mitgekonnt. Allein hätte er es vielleicht gemacht, aber im Wettkampf unterlag er. War er schon immer rückwärts gewesen, so war ihm, wenn er wieder einmal krank gewesen war, die ganze Klasse sozusagen davongelaufen. Er galt als unbegabt, und nur, weil er einen guten Willen zeigte, wurde ihm manches nachgesehen. Am Schlüsse reichte es nicht zur Reifeprüfung, und er bekam eine kleine Stelle, auf der er blieb.

Er hatte viele Vorgesetzte, die ihn nicht kannten. So lebte er ein abgeschiedenes Dasein, von seinen Vorgesetzten nur beachtet, wenn er etwas schlecht gemacht hatte, und man nahm von ihm nur Notiz, wenn er wieder einmal versagt hatte — geradeso wie in der Schule.

Da machte Blasius Plaininger zum erstenmal in seinem Leben etwas Besonderes.

Er wäre nie auf den Gedanken gekommen. Das kam so. Einer in seinem Büro wollte die Matura nachholen. Dazu war ein Lateinkurs nötig. Gelegentlich klagte er seinen Kollegen, wie schwer das sei. „Ja, schwer", bestätigte Blasius Plaininger, „das weiß ich sehr wohl.“ Und er fühlte eine

Überlegenheit über den Kollegen, der jetzt anfing, diese Sprache zu lernen, die weit hinter ihm lag und um die er sich acht Jahre bemüht hatte.

Und da kam ihm der seltsame Gedanke. Blasius Plaininger ließ sich in den Lateinkurs einschreiben. Hier war die einzige Gelegenheit in seinem engen Leben, wo er vor den anderen leuchten konnte.

Als Johannes Freudenthaler gleich zu Beginn des Kurses die Teilnehmer fragte, zu welchem Zweck jeder einzelne die lateinische Sprache in einem Jahr erlernen wolle, erschrak Blasius und kam sich ertappt vor. Er hatte keinen Zweck anzugeben. Professor Johannes Freudenthaler sah ihn überrascht an. Blasius senkte die Augen. Er hatte den Blick des alten Mannes nicht verstanden.

Das Leben hatte für Professor Johannes Freudenthaler einen Sinn bekommen. Wenn er abends in die Universität ging, hatte sein Schritt eine gewisse Beschwingtheit. Seltsam, dachte er, der Mann ist nicht mehr jung. Was mag ihn so spät zum ewigen Jungborn der Antike geführt haben?

Blasius war allen anderen überlegen. Schließlich hatte er doch acht Jahre Latein gelernt, und wenn er es auch wieder vergessen hatte, den Vorsprung hatte er vor den anderen. Er hütete sich, seine Vorkenntnisse zu verraten.

Aber die anderen arbeiteten wie die Pferde.

Eines Abends war sein Platz leer. Professor Johannes Freudenthaler suchte ihn im ganzen Saale, suchte noch einmal. Eine feste Sitzordnung gab es nicht.

Man kann einmal krank sein. Aber auch am nächsten Abend fehlte Blasius Plaininger.

Blasius Plaininger kam nicht mehr.

Professor Johannes Freudenthaler wartete. Jeden Abend, wenn er zur Universität ging, zitterte ihm das Herz. Er konnte sich nicht erkundigen. Niemand kannte den, den er suchte. Er fand keine Erklärung. War Blasius gestorben? Immer mehr fühlte er sich zu dem Menschen hingezogen, der in seinem Leben plötzlich aufgetaucht und dann rätselhaft verschwunden war. Selbst angenommen, daß er krank war, so würde er sich doch wieder zeigen. Er wartete Tag für Tag.

Aber Blasius Plaininger kam nie mehr. Er hatte lange durchgehalten. Es war höchste Zeit, daß er fernblieb. Es begann, gefährlich zu werden. Die ersten begannen, ihn bei dem Rennen zu überholen. Er gab es auf. Warum auch nicht? Sein Ziel hatte er erreicht. Er war der Erste gewesen. Einmal im Leben.

Vom Kummer des Professors Johannes Freudenthaler ahnte er nichts. Es kam vor, daß er ihm begegnete. Dann wich er dem kurzsichtigen Manne aus. Er hatte die zweite Rate des Kurses nicht bezahlt.

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