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Es geht um Leben oder Tod

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Knapp vor Weihnachten gab der Amtsführende Stadtrat für das Gesundheitswesen in Wien, Vizebürger-meister Lois Weinberger, im Rahmen der Budgetdebatte 1953 zum Kapitel Gesundheitswesen der Bundeshauptstadt aufrüttelnde Daten zur Volksgesundheit bekannt. Seine Darlegungen veraienen weit über den engeren Rahmen, dem sie zugedacht waren, gehört zu werden und stellen einen ernsten Aufruf an das soziale Gewissen in Stadt und Land dar. Wir bringen im folgenden von den hochbedeutsamen Ausführungen des Sprechers einen Auszug aus den erschütternden Kapiteln Bevölkerungsbewegung und Familie, Geisteskrankheiten und Alkoholismus, Krebsbekämpfung. »Die Osterreichische Furche“

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Knapp vor Weihnachten gab der Amtsführende Stadtrat für das Gesundheitswesen in Wien, Vizebürger-meister Lois Weinberger, im Rahmen der Budgetdebatte 1953 zum Kapitel Gesundheitswesen der Bundeshauptstadt aufrüttelnde Daten zur Volksgesundheit bekannt. Seine Darlegungen veraienen weit über den engeren Rahmen, dem sie zugedacht waren, gehört zu werden und stellen einen ernsten Aufruf an das soziale Gewissen in Stadt und Land dar. Wir bringen im folgenden von den hochbedeutsamen Ausführungen des Sprechers einen Auszug aus den erschütternden Kapiteln Bevölkerungsbewegung und Familie, Geisteskrankheiten und Alkoholismus, Krebsbekämpfung. »Die Osterreichische Furche“

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Unsere Bevölkerungsstatistik ist erschreckend und erschütternd zugleich. Wenn wir aus ihr entnehmen, daß im Jahre 1951 insgesamt 12.777 Geburten 25.872 Sterbefälle gegenüberstanden, sich für das Jahr 1951 somit ein Geburtendefizit von 13.000 ergibt, so müssen wir mit Schrecken feststellen, daß in unserer Stadt die Särge die Wiegen ganz bedeutend an Zahl übertreffen. Österreich und auch unsere Stadt ist vom Volkstode bedroht. Daß in Wien der Wille zum Kind unter allen Großstädten der Welt weitaus am geringsten ist, ist eine erschütternde Tatsache. So betragen zum Beispiel die Geburtsziffern im Jahre 1951 auf tausend Einwohner in

Worauf geht diese Entwicklung zurück? Sidier auf sehr viele materielle Notstände, auf schledite Arbeits- und Lohn-verhältnisce, auf keinen oder keinen ausreichenden Wohnraum, auf zu wenig Hilfe für kinderreiche Familien usw., usw. In diesem Zusammenhang gewinnt die Forderung nach den Familienausgleichskassen eine ganz große und ernste Bedeutung.

Aber diese Kinderarmut, diese Scheu vor Kindern, dieses Volkssterben geht doch auch auf andere, auf geistige Ursachen zurück. In erster Linie muß hier wohl die Angst vor der noch immer wackelnden, noch immer wackeligen Welt, vor der noch immer drohenden Atombombe und vor dem hoch immer drohenden Menschensterben angeführt werden. Dazu zählt aber auch die immer breiter wuchernde selbstische Einstellung der Menschen, die innere Haltlosigkeit, ihre zu schwache Gläubigkeit, ihre Bequemlichkeit und noch manches Übel, das von allen, die es sehen und erkennen, gemeinsam und konzentrisch bekämpft werden müßte. Politische Parteien werden hier am wenigsten tun können, die Lehrer, die Erzieher, die Priester unseres Volkes sind hier in erster Linie aufgerufen und berufen. Wir, die Politiker und Verwalter, werden mehr für die äußeren Unterlagen, für die Verbesserungen der materiellen Grundlagen zur Gründung von Familien, zur Erhaltung von Familien und vor allem zur Freude an Kindern und zur Erhaltung und Erziehung von Kindern tun müssen. Was uns vor allem fehlt, sind gesicherte und gesündere und damit bessere Familien. Wenn wir bessere Familien hätten, dann würden unsere Ausgaben für manche Sparten unserer Spitäler ganz bedeutend sinken, dann würden viele unserer Erziehungsheime wahrscheinlich überflüssig, und ihre Kosten könnten wir für positive Zwecke, für die Begründung gesunder Familien und für die Erhaltung gesunder Familien verwenden. Wenn unsere Familien gesünder wären, dann würden unsere Altersspitäler und unsere Altersheime zu einem großen Teile überflüssig, weil die Jungen und die Jüngeren wieder ihren Stolz dareinsetzten, den alten Vater und die alte Mutter möglichst bis zum Tode zu betreuen. Wenn wir gesunde Familien hätten, dann würde auch die Zahl der in den Heil- und Pflegeanstalten befindlichen Kranken, besonders der Alterssklerotiker unter ihnen, rapid absinken, und wieder könnten wir Millionenbeträge für gesunde Menschen, für die Kräftigung des Volkskörpers und so auch für produktive Zwecke freimachen.

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