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Gang übers Jock

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„Und jetzt muß ich halt gehn“, sagte Marie Ihre Wangen glühten, denn sie war lang beim Herd gesessen. Sie wollte nun wieder heimwandern übers Joch. Die Großmutter war gestorben — zwei Gewänder, zwei Schürzen und sechs alte Hinterglasbilder hatte Marie geerbt. Alles wurde in den großen Rucksack verstaut. Die Gewänder freuten sie, den Bildern schenkte sie wenig Beachtung. Marie verabschiedete sich; das matte Winterlicht lockte keine

Glanzlichter aus ihrem blaßgelben Haar. Sie trat in den grauschimmernden Dezembertag; es war nicht kalt, der Himmel hing rauchfarben nieder, die Bäume auf den Steilhängen in ihrer stumpfen Schwärze drängten nah heran.

Marie, satt und erwärmt, schritt mit erhobenem Kinn dahin, und der Wald nahm sie auf. Dämmerlicht herrschte hier, wie in meergrünem Wasser standen die.alten Fichten, raunend, knisternd, summend. Nun kam der Bergzaun, die Almen,

e violette Hütten; die ansteigenden Wiesen glänzten wie von innen erhellt. Das Mädchen, von der Wichtigkeit und dem Ernst seiner fünfzehn Jahre förmlich getragen, ging steil bergan. In der seidigen Graue war sie blank und wach wie nichts rundum. Ihre lackroten Backen hatten dieselbe Farbe wie die Füßchen der Schneehühner, die sich vor ihr knarrend erhoben.

Als es zu schneien begann, war sie schon hoch oben bei den Harfenzirben, deren gewaltige Leiber gewaltige Äste ausbreiteten; in ihnen klang dunkel der Wind. Fast schwarz flockte es aus dem riesigen, einsamen Himmel; erst schwankten die Schneesterne nieder, später wurden sie zu schrägen Schnüren, in die Unendlichkeit gespannt. Marie versank darin, tausende Flocken machten ihren Körper zunichte, zerteilten ihn und gliederten ihn in die Landschaft ein. Bevor sie noch auf das Joch kam, fiel der Sturm ie an. Plötzlich, drohend und eisig. In maßloser Gewalttätigkeit stürzte er über sie herein. Sie zog das wollene Tuch tief in die Stirn. Ihre Fußtapfen von gestern waren verweht. Marie sah nichts rriehr; fast wäre sie mit dem Kopf an einen Felsen angestoßen. Sie hockte sich in eine Mulde. Ihr war warm und sie hatte keine Angst. Kannte sie doch diese plötzliche Wildheit, die au schimmernden Gebilden von einer Stunde zu der anderen Teufelsfremdheit machen konnte, instinktiv verstand sie es, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Sie begann aus dem graugrünen Schnee einen Wall um sich zu bauen. Aber bald schmerzte das Gesicht so sehr, daß sie es mit dem Arm schützen mußte. Der Wall war zu niedrig. Das Schreien, Fauchen, Rasseln des Sturmes ging allmählich in monotones Sausen über — Marie war eingeschlafen. Vielleicht bewegte sie sich im Schlaf — die Hinterglasbilder vollführten Geräusche in ihrem Rucksack, sie klapperten und knurrten, sie schienen mit kleinen Stimmen durcheinanderzurufen. Es klang so wie: „He, he, Marie, zerbrich uns nicht, he he, Marie!“

Davon erwachte das Mädchen. Sie schämte sich vielleicht deswegen, weil die Heiligen auf den Bildern feierlich und erhaben hätten sprechen müssen, oder deswegen, weil sie das so geträumt hatte. Am Grunde der Grube, in der Marie saß, war es windstill, sie konnte die Laterne dort aufstellen und die

Kerze anzünden. Sie begann zu beten, doch was half’s, die Gebete waren ebenso zerfetzt und zerfranst und durcheinander, wie die Schneeschnüre, die sie zu umwickeln schienen und sie so lange umschnüren würden, bis sie erstickte.

Und plötzlich begann Marie, ganz wie ein spielendes Kind, die Glastafeln um sich aufzubauen. Nun steckten sie rundherum, lückenlos aneinandergereiht. Das Licht der Laterne ließ alles hell aufscheinen — er- chreckend nah waren die zarten Gesichter, resedengrüne Hintergründe, brennendweiße Lilien; und die Jungfrau hatte einen leuchtend blauen Mantel an. Das Jesuskind sah dem Mädchen kindlich ernst ins Gesicht. Noch nie hatte die Kleine Farben so erschreckend schön und glühend gesehen. Rauchwölkchen flogen aus ihrem Munde, das Unwirkliche war so nah und hatte längst alles Wirkliche verdrängt. Durch den flackernden Laternenschein, durch ihren Atem bekamen die Bilder geheimnisreiches Leben. Die Gottesmutter selbst-kam auf sie zu, bis zu den Knien versunken im tiefblauen Schnee, ein goldener Himmel öffnete sich und erhellte das stumpfe Grau der beginnenden Nacht. Marie hatte keine Uhr, doch sie sah die wilde Flut der Finsternis und den Herrn Jesus, der sie anblickte.

So umgaben die ewigen Gestalten der Heiligen, die Jungfrau, der Jesusknabe und der Nährvater Josef das schlafende Mädchen, und im flackernden Rot hing triumphierend die Sichel der heiligen Notburga, ie schwebte in der aufgetanen Nacht. S

hüteten die schlummernde Kleine, sie bildeten, neinandergereiht, ein Haus, ein Obdach, ein Gemach, aufgestellt gegen das völlige Dunkel, gegen die Dichte dieser Finsternis auf Erden. Auch der heilige Michael und der heilige Florian waren durch den tiefen Schnee gekommen, um Marie zu schützen. Denn außerhalb des kleinen Lichtscheines stieg aus der Weltödnis ein summender Ton, er schwoll an, es rollte in den Tiefen, es dröhnte, krachte und polterte, cinbrechen wollte der Sturm in den geschützten Raum, aber er konnte sich nicht durchzwängen zwischen den meerblauen und zinnoberfarbenen Gewändern, er vermochte nicht einzudringen in die resedengrüne Dichte und ins Gewirr der grellen Lilien.

Der Schnee fiel schwarz und undurchdringlich. Und wenn auch im Morgengrauen alles von blindem Grau überwuchert war, die Farben verlöscht, die Gesichter unkenntlich, die prunkenden Töne unansehnlich, so erhob sich das Mädchen dennoch wohlbehalten, nur ein wenig steif. Die Laterne war längst ausgebrannt. Es herrschte milde Stille. Die Bilder waren schneeüberkrustet, die Gesichter kaum kenntlich. Im stumpfen Dämmerlicht blinkte die Sichel der heiligen Notburga, sie hing in dieser blinden, opalenen Untiefe.

Marie hüllte die alten Glastafeln in die Gewänder, die sie von der Großmutter geerbt. Mit steifen Fingern verstaute sie auch die Laterne in ihrem Rucksack.

Die Welt wurde hell.

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