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Der Weg zuruck

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Leichter Nebel lag über dem Hudson, als an einem Dezemberabend ein Fährschiff bei einem Ozeandampfer anlegte, um seine lebende Fracht zu verladen. Dunkle Gestalten mit großen Seesäcken auf den. Rücken kletterten über die Fallreeps. Gegen den dunklen Abendhimmel ragten Tausende steinerne Lichtriesen. Millionen Glühbirnen leuditeten und an den hohen Fassaden der Wolkenkratzer zuckten bunte Leuchtreklamen in das Dunkel des hereinbrechenden Abends. “Wie sdimale, lichterfüllte Kanäle zogen sich die Avenues zwischen die Riesen, durch die ein buntes Leben flutete. Manhattan bei Nacht! Viele von den Gestalten, die auf das Deck des großen Schiffes kletterten, warfen einen Blick auf die gewaltige beleuchtete Szenerie des nächtlichen New York, bevor sie in den riesigen Bauch des Schiffes versdiwanden. Es war der letzte Blick auf ein Land, in dem sie längere Zeit geweilt. Kein zerstörtes Haus, keine Trümmer, keine ausgebrannten Ruinen, nur strahlende Helle, in der ein friedliches Leben wogte, das nichts wußte von den Schrecken der Vernichtung. Und Europa? Die Heimat? Wie wird es dort sein, nachdem der verheerende Gluthauch des Krieges versengend darüber hinwegfegte? Die bangen Fragen ließen die Herzen der Männer dumpfer schlagen.

In den frühen Morgenstunden des anderen Tages, als die Steinriesen von Manhattan noch eingehüllt in einen seidigen Nebelmantel schliefen, begannen die Maschinen des Dampfers zu brummen und der Lotse begann mit seiner Arbeit. Die große Freiheitsstatue verschwand im Nebel. Vor dem Bug des Schiffes lag das weite Meer. „Good by, America!“ Ladeluken waren zu Schlafsälen umgewandelt. In den Betten lagen die Gefangenen, die nun ihrer Heimat zufuhren. Leise brummten die Maschinen. Leicht schlingerte das Schiff. Viele lagen mit offenen Augen und starrten in die Dunkelheit, die nur durch eine blaue Lampe matt durchschimmert war. Der großen Sehnsucht war mit dem Nahen ihrer Erfüllung die große Frage gewichen: „Wie wird es zu Hause sein? Werden noch alle leben? Die Frau, die Kinder, die Eltern?“ Die meisten hatten seit langer Zeit keine Nachricht aus der Heimat.

Neben mir liegt ein junger Wiener. Ich fühle, daß auch er nicht schläft. Da wendet er sich langsam zu mir und sagt leise: „Du, weißt du, ich freue mich ja, daß wir jetzt nach Hause fahren, zugleich aber ist in mir eine große Angst vor dem Leben. Ja, Angst, ganz einfach Angst, und weißt du, wovor? Daß ich nach all dem, was ich erlebt, nicht mehr den Weg zu den Menschen zurückfinden kann. Immer werden die Bilder in meiner Seele sein, die mir die Mensdien als absdieuliche Geschöpfe gezeigt. Immer werden die Tage in mir sein, in denen ich Gesichter schauen mußte, die nichts mehr waren als unheimliche Fratzen, entstellt von der Gier nach dem Brot. Die wie eine Horde alles niedertrampelten, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Siehst du, über alldem ist mein Glaube an die Mensdiheit ins Wanken gekommen. Dieser Glaube aneinander aber ist doch die Grundlage des Zusammenlebens zwischen den Menschen. Wenn wir nicht mehr aneinander glauben können, wenn wir nicht mehr als Mensch zum Menschen • zueinander finden, dann wird unser irdisches Dasein zur Hölle. Nun habe ich Angst, daß ich hinter jeder konventionellen Maske, die die Menschen als Bürger tragen werden, dieses Gesicht seh Siehst du, das bedrückt mich und davor habe ich Angst.“

Dann standen wir an einem kalten stürmischen Dezembertag auf Deck. Aus dem regenverhängten Himmel und Meer schimmerte schattenhaft und unwirklich die Küste Europas. Auf und ab schaukelte das Schiff auf den stürmischen, schaumgekrönten Wellen und trug uns der Küste zu. Langsam liefen wir in den zerstörten Hafen ein. Aus dem Wasser ragten die Trümmer der versenkten Schiffe wie riesige unheimliche Meeresungeheuer. An der Küste lag die zerstörte Stadt. Ausgebrannce Ruinen, zerschmetterte Häuser. Dazwischen drangen dumpfe Detonationen zu uns herüber und dicke graue eklige Pilze standen über dem Land. „Europa“, murmelte einer. Noch banger schlugen die Herzen um die Heimat.

Es war wenige Tage vor Weihnachten. Der graue Regenhimmel hing tief über der verwüsteten Landschaft, als wir die französische Küste betraten. Nach langen Wochen, in einem Entlassungslager, kam dann endlich der Tag, an dem uns der Zug durch das heimatliche Land trug. Schneeig glänzten die Berge in all ihrer winterlichen majestätischen Pracht zu uns herüber und grüßten uns. Dazwischen in den Mulden der langentbehrte Anblick der entzückenden weißgekleideten heimatlichen Dörfchen. Wie ein verschmachtender an einer Quelle das lebenspendende Naß gierig in sich schlürft, so tranken unsere Augen und Herzen die wunderbaren, ach, so lang entbehrten heißgeliebten Bilder in sich hinein. Ein Glücksgefühl, das nur der ermessen kann, der die Sehnsucht und Angst um seine Heimat erlitten hat. Himmel und Freiheit! Schneller schlugen unsere Herzen und das Blut sang mit jedem Pulsschlag: „Heimat, liebe, gute, alte Heimat!“

Allmählich näherten wir uns unserem Ziel. Schon fuhren wir durch eine Landschaft, von der uns jedes Stückchen vertraut, von der uns jeder Weg ein Märchen der Vergangenheit erzählte, als wir auf ihm gewandert, in den herrlichen Sonnentagen einer längst vergangenen Zeit. Wo jeder Baum Erinnerung an unvergeßliche Stunden reinsten Glückes war. Schnaubend zog die Lokomotive über Berg und Tal. Dann standen wir auf dem Bahnhof. Ringsherum tiefe Stille. Zerstörte Bahnanlagen und Häuser entstellten das Gesicht des Bahnhofs. Irgendwie hatten wir das Gefühl, mitten im Krieg zu sein, und eine Bangigkeit ergriff von uns Besitz.

Nach Erledigung der Formalitäten zogen wir zur Straßenbahn. Neben mir schritt der junge Wiener. Kurz vor der Haltestelle stand plötzlich eine alte Frau inmitten der Heimkehrer und verteilte an sie Fahrscheine. Als wir vor ihr standen, sahen wir in ein gütiges, licibes Gesicht. Sie reichte auch uns jedem einen Fahrschein und sagte dabei: „Was anderes kann ich euch leider nicht schenken, als Willkommengruß.“ Aus ihren Augen leuchtete die große Güte eines Mutterherzens, vermischt mit dem stillgewordenen, abgeklärten großen Schmerz um einen Toten. „Ich wünsch euch alles Gute, Buben“, sagte sie leise.

Langsam und besinnlich bestiegen wir die Straßenbahn. Das graue Schimmern des schneeigen Himmels lag auf den Ruinen. Die Fensternischen der ausgebrannten Häuser starrten zu uns herüber wie erblindete Augen. Kalt und erlosdien. Stumm sahen wir in das grausam zerrissene Antlitz der geliebten Stadt, wie in ein Spiegelbild unserer Seelen. Da faßte der Freund nach meiner Schulter und während er sprach blickte er zu den Ruinen. „Es wird schwer werden. Aber wir müssen ihn finden — den Weg zurück.“ Polternd fuhr die Straßenbahn durch die Stadt. Aus dem grauen Wolkenhimmel lugte plötzlich ein Stückchen blauer Himmel. Wir waren daheim!

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