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EINE BEGEGNUNG

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Zum erstenmal sah ich diese Frau, als sie hinter dem Sarg eines ihr anscheinend sehr nahegestandenen Menschen schritt. Ein schwarzer Trauerschleier fiel von ihrem Kopf auf die schlanke, hochgewachsene Gestalt; ihre schön geschwungenen Lippen waren fest geschlossen. In ihrem wie aus Marmor gemeißelten Gesicht leuchteten dunkle Augen... Sie schien mir die Versinnbildlichung stolzen Leides.

Dann begegnete ich ihr des öfteren am Strand. Unbeweglich wie eine Bildsäule pflegte sie zwischen dem zerklüfteten Gestein zu sitzen, der Wind spielte mit ihrem Trauerschleier, und zu ihren Füßen spülte das Meer ununterbrochen Wellen heran, die sich an den Steinen brachen und zurückfluteten. Manchmal bemerkte ich Tränen in ihren Augen...

Ich wollte sie schon immer ansprechen, hatte aber nicht den Mut dazu. Eines Tages jedoch — es war im Juli — wurde das Meer mein Bundesgenosse: Am Vortag hatte schwerer Seegang geherrscht; nun aber kamen leise rauschend, nur kleine Wellen heran und flössen verspielt wieder ins Meer zurück. Eine von ihnen aber erhob plötzlich ihren gekräuselten Kamm und schlug mit dumpfen Klatschen gegen die Steine. Die Frau schrie leise auf, erhob sich eilig und schüttelte lächelnd die Tropfen von ihrem durchnäßten Kleide ab. Bei ihrem Schrei war ich zu ihr hingestürzt, blieb aber sofort stehen, als ich sah, daß sie meiner Hilfe nicht mehr bedurfte.

Sie hatte meine Bewegung bemerkt, lächelte mir dankbar zu und fragte in freundlichem Ton: „Habe ich Sie erschreckt?“ Auf eine neue Welle weisend, die sich langsam dem Strande näherte, setzte sie hinzu: „Sie ist so plötzlich an die Steine herangekommen... Verzeihen Sie, bitte — ich habe Sie wohl gestört.“ „Nicht im geringsten'“, antwortete ich. — „Ich glaube aber doch... Man soll einen Menschen nicht stören, wenn er schweigt.“ — „Ich verstehe Sie nicht; Sie drücken sich so sonderbar aus...“ sagte ich. — „Ich aber kenne den Sinn meiner Worte“, sagte sie ruhig.

Sie setzte sich auf einen höher gelegenen Stein. Wieder wurde ihr Gesicht unbeweglich und ihre Augen starrten in die Weite.

„Gnädige Frau“, sagte ich, „nichts bereichert die Seele des Menschen zwar so, wie die Einsamkeit — es gibt aber Fälle, in denen es unmöglich scheint, allein ein Leid zu ertragen.“

Sie wandte sich nach mir um und schaute mich mit ihren dunklen, traurigen Augen schweigend an.

„Ich habe Sie gesehen, als Sie hinter einem Sarg hergingen“, fuhr ich fort, „und hier habe ich Sie manchmal weinen gesehen.“

„Oh, das war nicht der erste Sarg“, sagte sie unbewegt und senkte den Kopf. „Und es ist nicht einmal so schwer, Tote auf dem Friedhof zu begraben als Lebende in seinem Herzen. Und das kommt manchmal vor, wissen Sie...“

Ich wußte es. Beide schwiegen wir. Zu unseren Füßen spielten die Wellen, die Möwen schrien durchdringend, und uns umgab der gesunde, kräftige Duft des Meeres...

„Hat schon jemals irgend jemand sein Glück mit Ihnen teilen wollen?“ fragte plötzlich die fremde Frau. „Ich glaube nicht — aber sein Leid wahrscheinlich schon oft, nicht wahr? Sehen Sie...“ Und wieder streifte ihr Blick die unendliche Weite des Meeres. Wir machen viel zuviel Wesens von unserem Leid. Wir klagen und stöhnen bis an unser Lebensende, und selbst nach unserem Tode bleibt allem, das uns umgeben hat, der Stempel unseres persönlichen Kummers aufgedrückt... Neue Menschen lösen uns ab. Sie sind jung, kräftig und mutig. Bevor ihr eigenes Leben aber noch beginnt, sind sie schon von unserem Leid vergiftet, denn wir haben nur die Schattenseiten unseres Lebens festgehalten, nur über die Wunden, die es uns geschlagen hat, gesprochen. So kommt es, daß unsere Nachfahren schon viel fremdes — nämlich unser — Leid in sich aufgenommen haben, daß sie gegen ihr eigenes, das ja unweigerlich an sie herankommt, keine Abwehrkräfte mehr haben, sich davon zu Boden drük-ken lassen und nun ihrerseits laut zu stöhnen und zu klagen beginnen.“

Sie schwieg und betrachtete den Himmel, in dem die Möwen geschäftig hin und her flogen. Dann fuhr sie fort: „Wer hat uns das Recht gegeben, anderen Menschen das Gift unserer Wunden einzuträufeln? In früheren Zeiten schwieg der zu Tode Getroffene stolz, um dem Gegner keinen Grund zum Triumph zu geben... uns aber ist es ein Bedürfnis, unseren Schmerz in alle Welt hinauszuschreien, selbst wenn wir nur Zahnweh haben... Mein eigenes Leid ist so groß, daß ich wahrscheinlich daran sterben werde. Die meisten Menschen aber sterben an den Folgen eines zu genußreichen Lebens — keineswegs aus Kummer. Was ihnen fehlt, ist der Stolz! Wäre ich eine Zauberin, so möchte ich jedes Neugeborene mit der Würde des Schweigens beschenken.'“

Sie erhob sich: „Leben Sie wohl“, sagte sie, mir mit dem Kopf zunickend.

Ich verneigte mich tief vor ihr und sah, wie ihre hohe, schlanke, schwarzgekleidete Gestalt langsam zwischen dem grauen Gestein verschwand.

Aus dem Russischen* übertragen von O. Buchholz.

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