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Digital In Arbeit

Gotische Dome

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Während ich die gotischen Dome (siehe Bild auf der Titelseite. Anm. d. Red.) Zeichnete, ihren unendlichen Reichtum und die Vielfalt ihrer Gestaltung in eindringender Arbeit mehr und mehr erfuhr, erfaßte mich eine Empfindung am stärksten, die mir so bedeutungsvoll erschien, daß ich sie auszusprechen versuchen möchte: die Empfindung, daß die Erbauer der gotischen Türme auf eine vorher und nachher niemals gefühlte Art eine Grenze dem Unendlich- Grenzenlosen gegenüber gesetzt oder diese Grenze aufzusuchen getrachtet hätten. Mögen sonst Künstler, gesichert in dem überschaubaren Feld ihrer Arbeit der ruhigen Abwandlung ihrer Kunstgesetze sich hingeben und so ihre Ziele erreicht haben, hier ist mehr und anderes unternommen.

Es ist von den Dombaumeistern der Versuch gemacht worden, den Himmel als Grenzenloses und die Erde als das Meßbare aneinanderzubringen, oder auch: die Kontur zu ziehen, die Grenze zwischen beiden. So kühner Plan konnte sich’s nicht genug sein lassen, Hallen zu wölben, Kuppeln zu bauen, es mußte ein Turm werden, es konnte keiner sein mit einer Fläche oben, wie sie die Festungen haben, die auf die

Erde allein herunterschauen. Es mußte ein Turm werden, der ins Unendliche zielt wie ein Pfeil. Freilich, auch er mußte fest gegründet sein in der Erde und mit genauer Kunst und Rechnung aufgemauert werden, um seine kühne Bewegung ins Unendliche anheben zu können. Unwillkürlich drängt sich dem Nachdenklichen zum großen Vergleich das Bild des Turmbaus zu Babel auf und die Vermessenheit seines Beginnens. Aber was dort die Vermessenheit sich zutraut, das geschieht hier in demütiger Liebe und innerem Trachten, der himmlischirdischen Vereinigung zu dienen. So heben wir den Blick von den mächtigen Mauern, die noch ganz leibhaft und fest auf der Erde stehen, und lassen die Augen steigen mit den Bogen und Streben himmelan. Sie tragen sich fort ins Ungewiß-Unzugängliche, um dorthin zu gelangen, wo die Vereinigung himmlischer und irdischer Welt stattfinden soll, die Grenze zwischen beiden erlangt wird.

Bei der zeichnerischen Bemühung während meiner Arbeit habe ich die verschiedenen Sprossen dieser Himmelsleitern an den Türmen von Ulm, Regensburg und Wien erschaut. Am Stephansdom führen die Sprossen oder Schritte am stürmischsten hinauf. Asymmetrische Konstruktionen, die den Schritt nach aufwärts besonders deutlich ausdrücken, vereinigen sich zu Symmetrien, lösen sich in kühnster Harmonie auf; alle wollen dem einen Streben „auf zum Himmel" dienen. Endlich, wo der Blick schon ganz das Oben findet, sieht er, wie alles Zielen aller Bogen, aller Streben, alles rankenden Wachstums in der Spitze des Turms zusammentrifft. Der Atem stockt, das Lid zuckt über dem schauenden Auge. War es doch vermessen, was hier unternommen wurde? Ist das Ziel erreicht, das Ziel des Pfeiles, der in den Himmel schoß? Ist die Grenze erreicht? Furchtbarer Abgrund zwischen Himmel und Erde, klaffst du noch? Da leuchtet uns die Kreuzblume, schwebend das Zeichen des Kreuzes als letztes Gesetz, Himmel und Erde zu verbinden.

Beim Anblick des Kreuzes scheint uns der Abgrund geschlossen. Himmel und Erde sind eins geworden. Es ist Frieden. Die Grenze bedeutet uns nicht abschneidenden Strich der Trennung, sondern ist uns sichtbar als ein Ziel für unser irdisches Leben. Wenn das Auge nun die Tausende aufgetürmter und geformter Steine wieder und wieder aufsucht, so lernen wir sie lesen wie die Schriftzeichen eines Buches, wie eine vernehmliche, eindringliche unverwechselbare Sprache. Es werden in uns aus lang vertrautem Vorrat die Kräfte aufgerufen, die nach oben führen, und es werden uns die anderen Kräfte gezeigt, die uns hindern auf dem Weg. Die Drachen und Teufel begegnen uns ebenso wie die Engel und did helfenden heiligen Gestalten. Auch das Lächerliche und Groteske ist alles an seinem Ort zu finden und ist gestaltet und beschworen.

Wenn nun der Künstler der heutigen Zeit nach solchem Schauen vor den Zeugen einer versunkenen Geisterwelt nachzusinnen beginnt über das, was ihn hier anrührt und was ihm lebendiges Erlebnis wurde, so sind es diese drei unverlierbaren Erkennt- nise:

Die erste: Häßliches und Schönes, das Böse und das Gute sind gleichermaßen geschaut und erlöst. Jedes hat seinen Platz in dieser Welt, und vom höchsten Punkte gesehen, ist alles nur eine Stufe auf dem Wege, der zur Erlösung führt.

Die zweite: Nur tiefste Ergriffenheit konnte den Erbauern der Dome die Kraft zur Gestaltung geben.

Die dritte: Das handwerkliche Können der Meister allein schuf der Ergriffenheit den ebenbürtigen Ausdruck im Zeugnis des gestalteten Werkes.

So müssen wir, die wir den Turm um- wohnen und seine Sprache hören, in uns gehen und uns prüfen: in seinen wunderbar aus fühlender Hand gebildeten Steinen die Prüfsteine auch erkennen für unsere Werke. Wir können nicht darüber hadern, wie schwer das Pfund sei, mit dem zu wuchern uns ufgegeben ist, aber wehe denen, die nicht erfüllen wollen, was sie vermögen!

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