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Herzschlag der Freiheit

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Das Wiener Volkstheater hat sich im letzten halben Jahr unter der Direktion Epps unzweifelhaft zur interessantesten Bühne Wiens entwickelt. Wien hatte in den letzten Jahren fast schon vergessen, daß das Theater der Gegenwart ein Genre zu pflegen hat, das die Fragen der Zeit lebhaft, in kräftigen Farben, gescheit und kühn zur Debatte stellt: das Diskussionsstück. Nach Kafkas „Prozeß“ bringt nun das Volkstheater in der Regie G. Mankers den „Belagerungszustand“ von Albert Camus.

Der 1916 in Algier geborene Franzose, einer der glänzendsten Repräsentanten des zeitgenössischen Geisteslebens in Frankreich (wobei bedacht werden muß, daß Frankreich eine der wenigen Nationen auf dieser runden Erde ist, in der von einem „Geistesleben“ gesprochen werden kann), ist in Oesterreich weder mit seinem „Caligula“, „Malen-tendu“, noch auch mit seinem „Homme revolte“, „Mythe de Sisyphe“ oder „L'Etranger“ bekannt. Camus, der „Atheist“, der „Philosoph des Absurden“, . will seinen Zeitgenossen einhämmern: Wachsein und Handeln aus diesem Wachsein ist alles: „Alles beginnt mit dem Bewußtsein“: unser Bewußtsein von den „Umständen“ und „Zuständen“ will sich realisieren im Gewissen, und im Handeln aus dem Gewissen. Camus ist der Denker einer inneren Resistance des Menschen gegen die Mächte, die ihn bedrohen. Das zeigt der „Belagerungszustand“. Camus gelingt es hier, in echten, gültigen, dichten (und deshalb dichterischen) Zeichen die dämonische Größe und den Verfall des Totalstaates zu zeigen. In der konservativ-dekadenten spanischen Stadt Cadix erscheint eines Tages ein neuer Herr, dem der „Gouverneur“ die Macht übergibt für den Preis des Lebens seiner eigenen Sippe. Dieser Herr mit cäsarischem Schädel, schwarz gewandet vom Scheitel bis zur Sohle (O. Wegrostek), trägt seit Jahrtausenden verschiedene Namen: er beliebt sich, hier als Pest aufzutreten. Dieser „Funktionär“ des Bösen verkörpert die Pest des Leibes und der Seele, also auch die Gewissenlosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Feigheit; die Menschen werden ihm hörig aus Angst. Verspricht er nicht, sie von dem Uebel zu befreien? In Wirklichkeit ist die Krankheit der Leiber nur sein Vorwand, um den Ausnahmezustand einzuführen, die totale Organisation, Uniformierung und Prostitution zu erzwingen. Er trennt die Geschlechter; seit Platons Totalstaatsutopie haben diese Machtherren erkannt: die Liebe und die Leidenschaft sind die unerschöpflichen Quellen des Menschlichen, des Widerstandes gegen jede Vergewaltigung. Der Student Diego muß einen langen Weg der Schande und Verdemütigung gehen, bis er reif wird, so daß die Furcht von ihm abfällt wie der Schorf von einer alten Wunde. In diesem Augenblick geht die stärkste Hilfsmacht des Totalherrn, der Tod (Elfe Gethart), selbst von jenem verführt zu seinen Diensten, zu diesem Jüngling über, der die „Revolte“ wagt: die Erhebung des Menschen für seine Brüder, wider Mächte, die gestern, heute und auch morgen, solange diese runde Erde sich bewegt, sich als übermächtig erweisen — um auf dem Gipfel ihrer Siege zu erliegen; nur für einen Herzschlag — Camus läßt keinen Zweifel darüber — schon drängen ihre neuen Trabanten heran, mit teilweise anderen Namen. Und der „Held“ stirbt. Sein Opfer wird angenommen. Der eine „Herzschlag“ — zwischen dem ersten Aufleuchten der inneren Befreiung in der Brust des ewigen einzelnen und seinem Sterben — genügt aber, um den frischen Wind der Genesung von der See, der Mutter der Freiheit, hereinstreichen zu lassen und in diesem kutzen Augenblick alle Früchte der Kultur, wahrer Gesittung und Menschlichkeit reifen zu lassen.

Camus' Spiel ist also ein hohes Drama vom Wert und Rang der Menschenwürde, das sich aller romantischen Illusionen entschlägt, wie es so gerne „christliche“ Schauspiele vorzustellen lieben, die fast immer so tun, als würde der große Kampf des Menschen und um den Menschen nicht weitergehen, nach ihrem letzten Aktschluß, bis zum letzten Atemzug der Weltgeschichte.

Die Aufführung des Volkstheaters verdient hohes Lob. Daß sie unsere Zeitlichkeit so deutlich sichtbar macht, verdankt sie nicht zuletzt den Bühnenbildern Mankers und der Musik Arthur Honeggers.

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