7092616-1994_35_11.jpg
Digital In Arbeit

„Ich zeichne das Gesicht einer Zeit“

19451960198020002020

Zum 100. Geburtstag des österreichischen Dichters und Journalisten Joseph Roth, der am 27. Mai. 1939 in seinem Pariser Exil an unglücklicher Liebe zu Österreich verstorben ist.

19451960198020002020

Zum 100. Geburtstag des österreichischen Dichters und Journalisten Joseph Roth, der am 27. Mai. 1939 in seinem Pariser Exil an unglücklicher Liebe zu Österreich verstorben ist.

Werbung
Werbung
Werbung

Grüßen Sie mir Wien! Oder nein, lieber nicht. Die Stadt ist jetzt voll mit Nazis.“ Der Regisseur und Autor Geza von Cziffra überliefert diesen Satz in seinen Erinnerungen an Joseph Roth, „Der heilige Trinker“; Es seien die letzten Worte gewesen, die der Schriftsteller im Jahr des „Anschlusses“ 1938 in Paris an ihn gerichtet habe. Joseph Roth: Was kennt man von ihm? Filme zunächst, den „Radetzkymarsch“, „Das falsche Gewicht“, „Die Rebellion“, „Die Legende vom heiligen Trinker“ und vielleicht noch „Das Spinnennetz“. Und „Hiob“?

Wer war dieser Joseph Roth wirklich? In Brody in Ostgalizien am 2. September 1894 geboren, Jude, später Katholik oder auch nicht - er selbst „korrigierte“ seine Biographie ständig -, brachte Roth einen seiner wichtigsten Biographen, David Bronsen, in Bedrängnis, der immerhin an die zwanzig Jahre für die Biographie recherchierte: „Langsam dämmerte mir, daß ich es mit der unüberwindlichen Einbildungskraft eines Mythomanen zu tun hatte, der seine Lebensgeschichte immer wieder umdichtete, der das in der Phantasie Erlebte zur Wirklichkeit und schließlich zum Mythos steigerte und zum guten Teil darin seine Lebenshaltung begründete.“

Joseph Roth studierte in Wien und in Lemberg Philosophie und Literaturwissenschaft, nahm am Ersten Weltkrieg teil, arbeitete ab 1918 als Journalist in Wien und Berlin und war von 1923 bis 1932 Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen“. 1933 emigrierte er nach Frankreich und starb 1939 in Paris.

Vielleicht ist es zu grob, wenn man sagt, Roth sei zeitlebens Anarchist geblieben — nicht einer, der subversiv Zündschnüre legt, sondern einer, der sich zuletzt vergeblich am Universalismus eines Kaiserreiches emporranken möchte, der aber — trotz aller freundlichen Beteuerungen seiner Freunde („Er war nicht fromm, dafür aber ein heiliger Trinker und ein Kind Gottes“, notierte der niederländische Journalist Johan Winkler, der damit Roth in die Richtung eines anonymen Christen schob) - nicht wirklich glauben konnte, auch wenn er seine Umgebung immer wieder zu überraschen und zu täuschen vermochte mit Kommunionempfang und Besuch von Gottesdiensten. Doch was er suchte, war die Gestalt eines Vaters.

Denn seinen leiblichen Vater hatte er nie kennengelemt und die Folgen für das von der Mutter ebenfalls nicht übermäßig geliebte Kind lassen die „Wunde des Ungeliebten“ (Peter Schellenbaum) immer wieder aufbrechen; man kennt aus Untersuchungen auch die Folgen, wenn der Vater in der Erziehung fehlt. Die Wurzellosigkeit dieses ständigen Wanderers, der keine Verbindung oder Beziehung über längere Zeit aufrechtzuerhalten vermochte, zeigen dies. Dazu kam die Geisteskrankheit seiner ersten Frau Friederike - eine Depression folgte einem Tief und ein Tief verdrängte die Depression. Wohl fühlte sich Roth nur in Hotels, Geldsorgen und Schwierigkeiten hatte er immer.

POLITISCH ENORM HELLSICHTIG

Andererseits verfügte er aber über ein politisches Sensorium wie kaum jemand; er reagierte, lange bevor ein politisches Erdbeben in das allgemeine Bewußtsein gedrungen war, mit entsprechenden Schriften und Äußerungen: auf den deutschen Nationalsozialismus ebenso wie auf die russische Revolution. Wie aber sollte Österreich im geopolitischen Umfeld Europas zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg aussehen? Waren „Radetzkymarsch“ und „Kapuzinergruft“ erzählt, um einen giganti schen Totentanz, einen Pompe fun- ebre, als Märchen vorzuführen, in dem dann doch noch - als Wunder — die Monarchie Wirklichkeit werden könnte? Als Wunder, wie es der Schluß des großartigen Wurfs von „Hiob“ als Möglichkeit gestattet? Wider alle Erwartung und Hoffnung - Mendel Singer, der Hiob der Neuzeit, und seine Familie waren ruiniert, in amerikanischem Exil, das behinderte Kind in Europa zurückgeblieben — war in dem Roman der Sohn genesen, ein gefeierter Musiker geworden. Mendel Singer hatte sich von den Thora-Rollen verabschiedet, sich seinem Wesen und seiner Existenz entfremdet. Findet er nun eine Auferstehung allein in der Welt von Joseph Roths Dichtung? Wird eine verloren geglaubte oder wirklich verlorene Welt, literarisch wenigstens, als neuer Kosmos wiedererrichtet?

Der Archetyp des modernen Menschen, der im französischen Existentialismus seine geistesgeschichtlich- literarischen Wurzeln hat, von dessen Kulturpessimismus und Technikfeindlichkeit schon bei Roth nachzulesen ist, gerät nicht nur in die Asylanten- und Emigrantenproblematik, er findet sich eingespannt zwischen zentrifugalem und zentripedalem Zug von Landflucht und Stadtflucht, von der Bewegung, die von außen nach innen, und jener, die Von innen nach außen weist. Roth, der ständige Wanderer, war behaftet mit dem Mythos des Opfers, damit nicht kokettierend, sondern wie zugeteilt von einem unentrinnbaren Schicksal. Es nützte ihm nichts, sich an die Grenzen eines Orts zu schreiben, ein Utopia zu konstruieren, ihm nachzureisen, die Lasten waren da.

Benno Reifenberg, sein Freund von der „Frankfurter Allgemeinen“, sagte einmal von ihm: „Er hat sein Gepäck seiner Bestimmung zu verdanken. Er wäre auch ohne Gepäck ein Reisender mit Traglasten.“ Roth schrieb in einem Brief 1926 zurück: „Ich zeichne das Gesicht einer Zeit“.

Er war einer, der die Uhr lauter ticken hörte als andere, der wußte, daß ihm nur das Nomadentum blieb. Zwischen Wien und Berlin und Frankfurt und Paris, zwischen den Nackenschlägen von Enttäuschungen und unerfüllter Liebe, heißt es einmal: „Wenn man einen großen Schmerz hat, ist es gut, den Aufenthaltsort zu wechseln.“ Dennoch hat er seinem großen Gönner Stefan Zweig nicht verziehen, daß dieser nach Südamerika ging.

Die Perspektivelosigkeit seines eigenen Lebens scheint Roth etwa dem Kriegsinvaliden Andreas Pum in dem Roman „Die Rebellion“ mitgegeben zu haben. Er läßt diesen zuletzt fragen: „Was bist Du für ein Gott? Ist Deine Grausamkeit Weisheit, die wir nicht verstehen — wie mangelhaft hast du uns geschaffen? Müssen wir leiden, weshalb leiden wir nicht alle gleich?“ Ein anderer Biograph, Wolfgang Müller-Funk, sieht Joseph Roth „dem Gesetz enttäuschter Liebe unterworfen“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung