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Lyrik als Verkaufsschlager

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Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich ist die Krise der modernen Lyrik in Frankreich keine Krise des Auffassungsvermögens des Publikums; das hat mit der Entwicklung der Literatur Schritt gehalten. Wenn Verleger, Buchhändler und Lyrikleser zeitgenössischen Gedichten hier aus dem Wege gehen, ist allein der Nimbus schuld, mit dem Lyrik umgeben und isoliert wird. Auf diesen Nimbus reagiert die Menge mit Gleichgültigkeit. So kommt es. daß im Übermaß produziert wird und nur ein Minimum verlegt und verkauft werden kann. Mehr als 300 Zeitschriften und zeitschriftenähnliche Blätter gibt es, die sich nur mit Lyrik befassen. Ihr Publikum sind hauptsächlich Freunde und Mitarbeiter. Natürlich fehlen Ausnahmen nicht: Von der „livre-de-poche“-Ausgabe mit Gedichten Rimbaud s wurden 400.000 Exemplare, von Paul Eluards Gedichten in der Reihe „Poetes d'aujourdh'hui“ (Seghers) 300.000 Exemplare abgesetzt. FJndeutig zieht das Publikum die „sicheren Werte“ vergangener Jahrhunderte und Jahrzehnte den zeitgenössischen Autoren vor.

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Im Gegensatz zu Deutschland und Österreich ist die Krise der modernen Lyrik in Frankreich keine Krise des Auffassungsvermögens des Publikums; das hat mit der Entwicklung der Literatur Schritt gehalten. Wenn Verleger, Buchhändler und Lyrikleser zeitgenössischen Gedichten hier aus dem Wege gehen, ist allein der Nimbus schuld, mit dem Lyrik umgeben und isoliert wird. Auf diesen Nimbus reagiert die Menge mit Gleichgültigkeit. So kommt es. daß im Übermaß produziert wird und nur ein Minimum verlegt und verkauft werden kann. Mehr als 300 Zeitschriften und zeitschriftenähnliche Blätter gibt es, die sich nur mit Lyrik befassen. Ihr Publikum sind hauptsächlich Freunde und Mitarbeiter. Natürlich fehlen Ausnahmen nicht: Von der „livre-de-poche“-Ausgabe mit Gedichten Rimbaud s wurden 400.000 Exemplare, von Paul Eluards Gedichten in der Reihe „Poetes d'aujourdh'hui“ (Seghers) 300.000 Exemplare abgesetzt. FJndeutig zieht das Publikum die „sicheren Werte“ vergangener Jahrhunderte und Jahrzehnte den zeitgenössischen Autoren vor.

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Daß das anders werden muß (die Forderung „II faut que ca change“ vom Mai 1968 scheint Gebiet um Gebiet erobert zu haben), beschlossen zwei junge Pariser Verleger, Michel Breton und Jean Orizet. Sie haben mittlerweile den Markt um eine in mancher Hinsicht revolutionäre Lyrikreihe bereichert — revolutionär für jene Poesiefreunde, die nach wie vor darauf bestehen, daß der Lyrikleser sich der Lyrik würdig erweisen muß, daß Lyrik „ihren Preis“ hat. Daß jeder taschenbuchformatige Band nur einen Franc kostet, wurde von den Verlegern als bewußte Herausforderung geplant. Sie sind die Wette eingegangen, daß die Franzosen sich ans Gedichtlesen gewöhnen werden, sobald die Lyrik nur aus ihrem goldenen Käfig erlöst wird. Ebenso neuartig wie das 1-Franc-Prinzip ist für Frankreich ein Gedanke, der in Deutschland vom Rowohlt-Verlag „buchfähig“ gemacht wurde, nämlich Anzeigenseiten in die Textseiten einzustreuen und damit den wesentlichen Teil der Herstellerkosten zu decken. Von'durch-' schnittlich 125 Seiten sind beinahe ein Drittel Anzeigenselten. Die bisherigen Titel erschienen in je 20.000 Exemplaren, von den nächsten Titeln

sind je 40.000 Exemplare vorgesehen. Daß Lyrik serienmäßig in derartig hohen Auflagen erscheint und — wie die Erfahrung zeigt — mit Gewißheit Käufer findet, läßt Autoren und sämtliche Lyrikverlager aufhorchen. Gerade die letzteren waren dem Unternehmen anfangs nicht wohlge-gesinnt. Michel Breton und Jean Arizet, die vor zwei Jahren die Li-brairie Saint-Germain-des-Pres kauften und zum Hauptquartier ihrer verlegerischen Tätigkeit machten, nutzten natürlich ihre Kontakte zu Verlegern, um diese zur - Vergabe von Anzeigen ihrer eigenen Produktion, also zur Werbung für das Buch durch das Buch, zu gewinnen und ihnen gleichzeitig zu versichern, daß die „1-Franc-Redhe“ keiner traditionellen Lyriksammlung gefährlich werden kann, daß ganz im Gegenteil eine allgemein* Förderung der Lyrik erreicht wird. Denn wer die „Illutai-nations“ von Rimbaud oder eine Auswahl Cocteau für einen Franc ersteht, wird höchstwahrscheinlich mehr von diesen Autoren lesen -wollen und sich umfangreicheren Ausgaben zuwenden. Um Zeitungen und Zeitschriften zur Werbung zu bestimmen, erfand man ein Austausch-

system: die Presse wirbt für sich in den Lyrikbänden und berichtet als Gegenleistung über die Aktivität der Verlagsbuchhandlung. In Zukunft soll der Inserentenkreis zwar erweitert werden, jedoch auf einem gewissen Niveau bleiben. Allgemein interessierende Anzeigen (Fluglinien, Auto- Parfüm- Schallplattenmarken, Banken, Reisebüros) sollen aufgenommen werden. Die Verleger sind mit den bisherigen Erfolgen zufrieden. Noch bevor die Auslieferung der ersten fünf Bände — je eine Auswahl Rimbaud, Mallarme, Cocteau, Verlaine und eine Anthologie zeitgenössischer Lyrik — begonnen hatte, lagen Aufträge für insgesamt 70.000 Exemplare vor. Inzwischen verkaufen mittlere Buchhandlungen in Paris 100 Exemplare pro Tag. Jeder Band enthält ein auf das große Publikum gemünztes Vorwort und eine Einführung. Für die Mini-Vorworte wurden Berühmtheiten aus Film und Theater gewonnen: Jean Paul Belmondo äußert sich zu Rimbaud, Jean Marals zu Cocteau usw.

Dank der bisherigen Verkaufserfolge scheinen dem Verlag nun alle möglichen Ideen realisierbar. Zwei große Ideen stehen zunächst im Vordergrund: eine Reihe mit Autoren aus französisch sprechenden Ländern und eine zweite Reihe, in der endlich Frankreichs regionale Dichter (aus der Provence, der Bretagne, dem Baskenland usw.) in ihrer Sprache und der französischen Übersetzung zu Wort kommen sollen.

Man kann diesem zeitgemäßen Unternehmen getrost eine große Zukunft voraussagen. Der Liebe zu Versen droht vielleicht nicht gerade der Erstickungstod, doch ist es beruhigend zu wissen, daß hier r. ein allen pessimistischen Prognosen kräftig entgegenwirkendes Mittel gefunden wurde.

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