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Der bekannte Schweizer Kultursoziologe Hans Zbinden, der gleichzeitig Präsident des schweizerischen Schriftstellerverbandes ist und den der „Standpunkt“ einen „Schweizer von Welt“ nennt, beklagte sich kürzlich axi einem Vortrag im ARAL-Seminar Scheidehausen zu dem Gesamtthema „Verwirrung der Proportionen“, daß in unseren modernen Bauten wohl für den Frigidaire, für das eingebaute Bad, für den Fernsehapparat, das Radio und — selbstverständlich — die Garage der erforderliche Platz eingeräumt und in den Kostenvoranschlag eingeplant wird, jedoch jeglicher stille Winkel, jene geheimnisvolle Nische, wie sie Kinder immer geliebt haben, völlig verschwunden sind: es fehlen die geräumigen Dachböden, die breiten Korridore, die dämmerigen Winkel, die geheimnisvollen und zwielichtigen Küchen und abseitigen Ecken, die allesamt immer wieder die kindliche Phantasie anregten. Der Lichtfanatismus — die schreiende Reklame I — unserer Zeit und die Modearchitektur brachten das Kind zudem gerade um das, was es eifrig sucht, was es liebt und für seine seelische Entwicklung dringend braucht und nötig hat: die Dämmerung, das Zwielicht mit seiner Heimeligkeit und feinem bannenden Reiz.

Die Lehre der neueren Psychologie vom Kinde, daß die Bedürfnisse der Kinder vorwiegend in der Sphäre des Gemütes liegen — dem entscheidenden Zentrum der werdenden menschlichen Person — und daher mit demselben Nachdruck gepflegt werden müssen wie alle anderen als unerläßlich angesehenen Punkte (Heizung, technische Ausrüstung und Haushaltshilfen. Verkehr usw.), müßten nach Zbinden zum Allgemeingut, sozusagen zum Elementarbewußtsein der Siedlungsplanung bei den Behörden wie bei den Architekten werden.

Außer den vielen beachtens* und beherzigenswerten Anregungen für das moderne Bauen mit Berücksichtigung der Kinder steht selbstverständlich die Frage nach der fehlenden Mutter bei Zbinden wie bei allen anderen Autoren, denen die Kinder am Herzen liegen, im Zentrum seiner Überlegungen. Er beklagt mit einer gewissen Bitterkeit und einem um die Zukunft besorgten Ernst, daß es gerade der Kindergarten sei, der — von Pestalozzi und Fröbel mit ganz anderen Intentionen erdacht — „unaufhaltsam zu einem Kollektivbetrieb“, zu ^ einer richtiggehenden „Kindergarage“ geworden ist (nicht erst zu werden drohtl). Bei aller gebührenden Anerkennung der hohen Verdienste aller Aktionen für die Entwicklungsländer mögen wir nicht vergessen, daß wir schütz- und entwicklungsbedürftige Gruppen mitten unter uns haben: die kleinen Menschen, die unter unnatürlichen Lebensbedingungen ebenso leiden würden, und gerade dieses „Entwicklungsvölkchen“ hätte unsere Hilfe bitter nötig. Unnatürlich sei der Kindergarten heute nicht nur weil er die Kinder viel zu lange und viel zu früh aufnehme (in Wien um oder gar vor sieben Uhr und manche Kinder schon vor dem dritten Lebensjahr!), sondern auch in allzu großen Scharen. Eben die Gleichaltrigkeit solcher Kinderkollektive begünstige die Nivellierungsten-denzen unter den in diesem frühen Alter dafür anfälligen Kindern, die Einförmigkeit der Reaktionen und die Schematisierung des Lebens.

Aus der heute schon wissenschaftlich von allen Seiten her gestützten Erkenntnis von der Wichtigkeit und einzigartigen Bedeutung der Mutter ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit, die außerhäusliche Erwerbstätigkeit der Mütter auf die wenigen Verhältnisse einzuschränken, in denen es aus ökonomischen Gründen völlig unerläßlich ist; freilich sollten auch diesen Müttern Halbtagsbeschäftigungen verschafft werden. Alle Mütter sollten auf die schweren Nachteile hingewiesen werden, die durch die Erwerbstätigkeit der Mütter den Kindern erwachsen und die sich an ihnen eben bitter rächen. Die aufschlußreichen und stark beunruhigenden Statistiken über die Herkunft krimineller Jugend und ihre unaufhaltsame Zunahme erzwingen „geradezu eine klare Verantwortung“. Alle diese Statistiken sollten in ihrer Tragweite und Schicksalhaftig-keit der breiten Öffentlichkeit eindrucksvoll und besonders den jungen Mädchen in Schule und Haus vor Augen geführt werden. Nur wer einigermaßen Einblick in die psychologischen Zusammenhänge und statistischen Konsequenzen hat, dem wird die ganze Tragik des Kinderleides in der Gegenwart aufgehen, und er wird den bitteren Kassandraruf des Vorstandes der Universitätskinderklinik in Kiel, Professor Dr. W. C a t e 1, verstehen, wenn er in seinem Referat auf dem Kongreß der Norddeutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde die Ge-gegenwartssituation unserer Kinder als ausgesprochene Kulturschande anprangert und seinen Vortrag dann mit folgenden. Worten schließt: „Statt die Kinder unablässig zu testen, mit psychoanalytischen Methoden ihre Seele zu zerfasern, harmlose Regungen mit schwülstigen Worten in ödipale oder aggressive oder Frustrationskomplexe zu verfälschen, sollten sich diejenigen, die dies tun, lieber darauf besinnen, daß zunehmend unsere Kinder heimatlos, Familie und Ehe zunehmend zur Möbelgemeinschaft werden, daß das Leben aber mehr beinhaltet als das Geworfensein in Unruhe und Angst, in die Sucht nach Besitz, Genuß, Lärm, in den Irrtum des Prestiges, der äußeren Geltung — hier liegt unseres Erachtens der Ansatz für eine Peripetie der traurigen Situation unserer Kinder.“

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